von Felicia Chacón Díaz und Björn Pawlak - 12.01.2012
Guatemala hat, wie viele andere lateinamerikanische Staaten auch, eine von Diktatur und Gewalt geprägte jüngere Geschichte erlebt. Der Bürgerkrieg dauerte 36 Jahre. Sein Ende im Jahr 1996 bedeutete aber noch lange nicht das Ende der Gewalt - auch heute sterben im Land täglich viel mehr Menschen als in tatsächlich befriedeten Staaten. Am 14. Januar beginnt die Amtszeit von Otto Pérez Molina, dem neuen guatemaltekischen Präsidenten. Wie ist die Situation in Guatemala, auf welche Geschichte blickt das Land zurück und was wird sich durch den neuen Präsiden voraussichtlich ändern?
Guatemala zählt zu den ärmsten Ländern Mittelamerikas - mehr als die Hälfte der Bevölkerung gilt als "extrem arm". Gemessen wird das am durchschnittlichen Einkommen: "absolute" oder "extreme" Armut bezeichnet nach Auskunft der Weltbank eine Armut, die durch ein Einkommen von weniger als zwei US-Dollar pro Tag gekennzeichnet ist. Im Fall der extremen Armut besteht ein massiver Mangel an lebenswichtigen Gütern - so war auch Guatemala von Hungersnöten betroffen.
Heute wird Guatemala als demokratischer Staat bezeichnet. Die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse haben sich aber auch nach dem Ende des Bürgerkriegs nicht wesentlich verändert. Wenige Familien, welche schon seit Generationen über riesigen Landbesitz in Guatemala verfügen, kontrollieren das Land und besitzen die Macht, das politische System in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Aufarbeitung der Vergangenheit
Ein großes Thema ist heute die Aufarbeitung der Verbrechen aus der Vergangenheit, an dem sich der Staat und das Militär beteiligt hatten. Eine von den Vereinten Nationen beauftragte Mission beobachtet und analysiert den Prozess dieser Aufarbeitung. Tatsächlich werden die Täter aber noch immer nicht zur Rechenschaft gezogen - das politische System dieses Landes verhindert dies.
In Guatemala steuern das Militär und die so genannte "Wirtschaftsoligarchie" - gemeint ist in diesem Fall eine "Herrschaft der Reichen" - die Politik und lenken den Zugang zur Macht. Otto Pérez Molina, ein mutmaßlich in Kriegsverbrechen verwickelter Ex-Militär, ist vor kurzem als Kandidat für die "Partido Patriota" ("Patriotische Partei") zum neuen Präsident des Landes gewählt worden - am 14. Januar 2012 tritt er dieses Amt an.
Wie kam es zum Bürgerkrieg?
Schon vor dem Bürgerkrieg (1960 bis 1996) wurden die Besitzverhältnisse mit Gewalt verteidigt: Als im Jahr 1954 der gewählte Präsident Jacobo Árbenz eine "Bodenreform" anstrebte (die Umverteilung von Landbesitz im Sinne der breiten Bevölkerung), organisierte der US-amerikanische Geheimdienst "CIA" ("Central Intelligence Agency") einen Militärputsch - das bedeutet, dass das Militär die Regierung gewaltsam stürzte. Eine ähnliche Strategie verfolgte die CIA damals auch im Iran gegen den dortigen Präsidenten Mohammad Mossadegh, der das iranische Erdöl verstaatlichte - das heißt, der Staat übernahm die Kontrolle über die Produktion und den Handel mit dem begehrten Öl.
Das Eingreifen wurde damals damit gerechtfertigt, dass die Bodenreform (im Iran die Verstaatlichung des Erdöls) als "kommunistische Bedrohung" angesehen wurde. Es hieß, es müsse verhindert werden, dass Länder wie Guatemala und zahlreiche andere mittel- und südamerikanische Länder zur Zeit des Kalten Krieges sich nach dem Vorbild Kubas dem kommunistischen Block unter der Führung der Sowjetunion anschließen würden. Die USA werteten dies als Bedrohung für die eigene Sicherheit und begründete damit ein gewaltsames Eingreifen im Ausland - ähnlich argumentierte die US-Regierung auch im Falle anderer Konflikte wie dem von 1957 bis 1975 dauernden Vietnam-Krieg.
Geschützt werden sollten durch das Eingreifen der CIA, des US-Geheimdienstes, aber nicht zuletzt die Interessen von US-amerikanischen Agrarkonzernen in Guatemala, also von Landwirtschaft betreibenden Großunternehmen. Diese verfügten - in Form von fruchtbarem Boden - gemeinsam mit den herrschenden guatemaltekischen Familien über den Reichtum des Landes. Dass es später zum blutigen Bürgerkrieg kommen sollte, hatte zum großen Teil mit dieser ungerechten Verteilung zu tun.
Krieg zwischen Militär und Untergrundkämpfern
Im Bürgerkrieg standen sich im Wesentlichen militärische und so genannte "paramilitärische" Gruppen (das sind selbständige, mit militärischer Gewalt ausgestattete Einheiten) auf der einen Seite und "Guerillakämpfer" (das sind "Untergrundkämpfer", die gegen einen übermächtigen militärischen Gegner kämpfen) auf der anderen Seite gegenüber. Der Kampf zog alle Schichten der Gesellschaft in Mitleidenschaft.
Im Sinne einer Versöhnung wurde nach dem Ende des Bürgerkrieges das Prinzip der "Amnestie", gemeint ist eine Straffreiheit für Menschenrechtsverbrechen, durchgesetzt - egal, ob sie durch den Staat oder durch die Guerilla verübt worden waren. Das betrifft zahlreiche Verbrechen, in den schlimmsten Fällen Verschleppungen, außergerichtliche Hinrichtungen und Massenmord.
Dabei steht im Friedensvertrag, mit dem im Jahr 1996 das Ende des Bürgerkriegs beschlossen wurde, wortwörtlich geschrieben: "Es ist ein Recht des Volkes von Guatemala, die Wahrheit über die Menschenrechtsverletzungen und die Gewalttaten, die im Zusammenhang mit der bewaffneten inneren Auseinandersetzung geschehen sind, in Gänze zu erfahren."
Vertuschung der schweren Verbrechen
Die Vereinten Nationen hatten zwar im Jahr 1997 eine Kommission berufen (ihr spanischer Name lautet "Comisión para el Esclarecimiento Histórico", auf Deutsch "Kommission für geschichtliche Aufklärung"), welche die Verbrechen der jüngeren Geschichte Guatemalas untersuchen sollte - zunächst unter der Leitung des deutschen Juristen Christian Tomuschat. Diese Kommission sammelte Dokumente wie Schriftstücke und Zeugenaussagen und wertete diese aus. Allen Zeugen wird dabei "Anonymität" zugesichert - das bedeutet, dass ihre Namen auf keinen Fall öffentlich gemacht werden.
Im Jahr 2005 wurde in der Hauptstadt Ciudad Guatemala (Guatemala Stadt) ein altes Polizeiarchiv mit geschätzten 80 Millionen Akten entdeckt, in dem zahlreiche Verbrechen aus der Zeit des Bürgerkriegs dokumentiert worden waren. In den Jahren zuvor war aber bestritten worden, dass es ein solches Archiv überhaupt gebe. Die Akten werden seitdem sortiert, gescannt und sogar auf einem Server in der Schweiz gespeichert, so dass sie nie mehr vernichtet werden können. Viele Familien, die noch immer nicht wissen, was damals mit vermissten Angehörigen passiert ist, hoffen seitdem auf Aufklärung.
Über 90 Prozent der politischen Gewalttaten werden der Kommission nach den militärischen und paramilitärischen Kräften zugeschrieben, nur drei Prozent den Guerilla-Kräften. 83 Prozent der Opfer waren Angehörige der indigenen Bevölkerung, insbesondere der Maya, weswegen auch von Völkermord ("Genozid") die Rede ist. In Folge all dieser Ereignisse und der Verschleierung schlimmer Verbrechen ist die guatemaltekische Gesellschaft tief gespalten und seelisch erschüttert - man spricht auch von einem "Trauma", also einer schweren seelischen Verletzung. Die Menschen können oft nicht verarbeiten und nicht vergessen, welche schlimmen Dinge geschehen sind.
Straffreiheit für die Täter
Fast jede guatemaltekische Familie hat Opfer in den Bürgerkriegsjahren zu verzeichnen, alle gesellschaftlichen Schichten sind betroffen. Man geht für die Zeit des Bürgerkriegs von mehr als 200.000 Toten und Vermissten aus. Ehemalige Kriegsverbrecher sollen zahlreiche Posten im Verwaltungsapparat des Staates innehaben und wollen natürlich nicht, dass die Vergangenheit aufgearbeitet wird.
Das Problem ist, dass es eine Abmachung gibt, welche besagt, dass die Ergebnisse der Wahrheitskommission nicht zur strafrechtlichen Verfolgung einzelner Personen verwendet werden dürfen. Ohne diese Abmachung hätte das Militär nach dem Ende des Bürgerkriegs nicht geduldet, dass überhaupt eine solche Kommission gebildet wird. Die Wahrheitskommission hat seitdem zwar Vorschläge gemacht, wie die Täter bestraft werden könnten, das guatemaltekische Parlament hat diese Vorschläge aber so gut wie überhaupt nicht umgesetzt.
Die Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit wurde für die Menschen in Guatemala auch zu einem ethischen Problem, also zu einer Gewissensfrage. So wurden zwei gegenteilige Haltungen diskutiert: einerseits die Forderung nach lückenloser und schonungsloser Aufklärung im Sinne der Gerechtigkeit, andererseits der Verzicht dieser Aufklärung im Sinne der Versöhnung. Natürlich wünschen sich die Menschen in Guatemala Frieden, gleichzeitig kann man über schlimme Menschenrechtsverbrechen aber nicht einfach hinweg sehen.
Das guatemaltekische Rechtssystem hat jedenfalls nicht genügend Durchsetzungsvermögen, um unabhängig für Aufklärung zu sorgen. Dabei spielen seitens der Vertreter des Rechtssystems "Korruption", also Bestechlichkeit, aber auch Einschüchterung und Angst eine Rolle. So verweigerten Richter und Staatsanwälte teilweise ihre Mitarbeit, weil sie fürchteten, selbst Opfer von Gewalt und Racheakten zu werden. Nur in wenigen Fällen konnte der guatemaltekische Staat dazu verpflichtet werden, die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen zu übernehmen und Entschädigungen zu leisten.
Ein in Kriegsverbrechen verwickelter Präsident?
Mit Pérez Molina steht erstmals nach dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1986 wieder ein Armeevertreter an der Spitze des Staates. Dem neuen Präsidenten wird vorgeworfen, dass seine militärische Einheit während des Bürgerkriegs für mehrere Massaker, also grausame Massenmorde, in der mehrheitlich von Maya bewohnten Provinz Quiché verantwortlich gewesen sei. Später war Pérez Molina Chef des militärischen Geheimdienstes. Besonders für die indigene Bevölkerung ist es kein gutes Zeichen, dass dieser Mann nun Präsident des Landes sein wird - trotzdem Pérez Molina im Jahr 1996 als General im Namen des Militärs den Friedensvertrag unterzeichnet hatte.
In seinem Wahlkampf versprach Pérez Molina, mit harter Hand gegen die Drogenkriminalität in Guatemala vorzugehen. Ähnlich wie in Mexiko und anderen mittelamerikanischen Staaten sind die Drogenkartelle ("Kartell" bedeutet hier die "organisierte Kriminalität" durch Verbrecher-Gruppierungen, die den Drogenmarkt beherrschen) in Guatemala äußerst einflussreich, insbesondere an der Grenze zu Mexiko - das Land ist ein Drehkreuz für den internationalen Drogenhandel mit Kokain, welches überwiegend aus Kolumbien kommt und in den USA "illegal", also gesetzeswidrig, auf den Markt gebracht wird.
Die Macht der Drogenkartelle
Es ist eine bittere Wahrheit, dass die Drogenkartelle Gelder nach Guatemala bringen, mit denen durchaus auch soziale Projekte zugunsten der Bevölkerung angekurbelt werden - so werden etwa Schulen oder Sportplätze gebaut. Weil der Drogenhandel die Wirtschaftskraft des Landes stärkt und für Arbeitsplätze sorgt, ist er mittlerweile sogar fest in der Gesellschaft verankert.
Auf der anderen Seite wird dafür nicht nur mit verbotenen und gefährlichen Rauschmitteln gehandelt, sondern die Kartelle sind auch die Drahtzieher für Erpressungen, Entführungen und Ermordungen. Sie organisieren Menschenhandel und Prostitution - also das Geschäft, bei dem Menschen ihren Körper verkaufen und gegen Geld sexuelle Dienste leisten. Nicht selten werden sie dazu gezwungen.
Diese Kartelle haben so viel Macht im Land, dass sie in vielen Fällen auch die politischen Machthaber beeinflussen und der strafrechtlichen Verfolgung entgehen. Die politischen Parteien Guatemalas sollen von der Drogenmafia unterwandert sein. Organisationen, die sich für Menschenrechte einsetzen, schätzen, dass mindestens 20 Prozent der gewählten Volksvertreter von den Kartellen kontrolliert und beeinflusst werden. Die guatemaltekische Polizei verfügt noch nicht einmal über die Ausrüstung, um sich mit den schwer bewaffneten Kartellen anzulegen. Die Kartelle sind teilweise untereinander verfeindet, und auch mexikanische Kartelle sind grenzüberschreitend aktiv. Daneben existieren in den Städten die in Mittelamerika berüchtigten Jugendbanden, "Maras" genannt.
Pérez Molina drohte in seinem Wahlkampf den Drogenkartellen und der Kriminalität. Auf der anderen Seite wurden aber Vermutungen angestellt, dass die Drogenkartelle Pérez Molinas Wahlkampf finanziert haben könnten. Dasselbe gilt für den letztlich unterlegenen Gegenkandidat Manuel Baldizón - auch gegen ihn wurden Vorwürfe dieser Art erhoben. Weder Pérez Molina noch Baldizón haben die Namen der Spender ihres jeweiligen Wahlkampfs bekannt gemacht. Jedenfalls ist zu erwarten, dass auch unter Pérez Molina die ungleichen Besitzverhältnisse in Guatemala verteidigt und die Gräueltaten der Vergangenheit verschleiert werden.
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