von Björn Pawlak
Camus' philosophisches Werk ist eher unsystematisch - er selbst hat sich daher auch überhaupt nicht als "echten Philosophen" verstanden. Die erste philosophische Gewissheit bei Camus ist das "Absurde", welches das Gefühl der Fremdheit des Menschen in der Welt zum Ausdruck bringt. Gegen Ende seines Lebens dachte Camus vor allem darüber nach, was den gemeinsamen Wert des Lebens unter den Menschen ausmacht.
Der "Held" des Absurden ist Sisyphos, eine Figur aus der griechischen Mythologie, der laut Camus als von den Göttern bestrafter sein Schicksal meistert. Durch die Betrachtung des Schicksals von Sisyphos "entdeckte" Camus eine "ewige Auflehnung" des Menschen gegen die "Bedingungen seines Daseins".
Gegen Ende seines Schaffens rückte Camus die "Solidarität" der Menschen untereinander in den Mittelpunkt. ("Solidarität" - abgeleitet von "solidus", dem lateinischen Ausdruck für "fest" - bezeichnet eine Haltung der Verbundenheit des Einzelnen mit anderen und die gegenseitige Unterstützung.)
Camus wird häufig als ein moderner Vertreter des "Humanismus" verstanden - der Humanismus ist eine Weltanschauung, die sich an den Interessen, den Werten und der Würde des einzelnen Menschen orientiert. Manchmal zählt man ihn auch zu den "Existentialisten", deren berühmtester Vertreter Jean-Paul Sartre ist.
Was ist das Absurde?
Das Absurde ist Thema in Camus' erstem philosophischem Werk, welches den Titel "Der Mythos des Sisyphos" trägt. ("Mythos" bedeutet wörtlich übersetzt soviel wie "Erzählung".) "Absurdität" bezeichnet allgemein etwas "Widersinniges" oder "Unsinniges" - der Begriff geht auf das lateinische Wort "absurdus" zurück, das wörtlich übersetzt "misstönend" heißt. Das Absurde ist für Camus das Gefühl der Fremdheit des Menschen in der Welt, das Hin- und Hergerissenwerden zwischen menschlicher "Hoffnung" und "Todesgewissheit".
Auch das "mechanische" und sich ständig wiederholende Alltagsleben nennt Camus "absurd" - täglich zur Schule oder zur Arbeit gehen zum Beispiel. Camus fühlt angesichts des Absurden auch "Ekel" und "Überdruss" dem Dasein gegenüber. Deswegen stellt sich für ihn die allem zugrunde liegende Frage, ob das Leben überhaupt "lebenswert" ist oder nicht. Diese Frage möchte Camus zunächst einmal radikal mit ja oder nein beantworten.
Dabei möchte er jedoch auf alle "falschen Hoffnung" verzichten, wie sie seiner Ansicht nach etwa von den Religionen und deren "totalitären" Vorstellungen von Gott verbreitet werden - "totalitär" bedeutet "allumfassend". Camus war "Atheist", was heißt, dass er die Existenz Gottes leugnete. (Der Begriff "Atheismus" geht auf das griechische Wort "átheos" zurück, welches "ohne Gott" bedeutet.) Camus' Ansicht nach kann man nicht gleichzeitig an Gott und an die Absurdität glauben, beides schließt sich gegenseitig aus.
Der Mensch gibt sich selbst einen Sinn
Camus möchte die Absurdität der Welt anerkennen und sich dennoch für das Leben (und gegen des Selbstmord) entscheiden. Den Glauben an das Jenseits und jede "Metaphysik" hält er für "philosophischen Selbstmord". Der Begriff "Metaphysik" leitet sich von den beiden Wortelementen "metá" - griechisch für "dahinter" - und "phýsis" - griechisch für "Natur" - ab. Die Metaphysik ist ein Hauptzweig der Philosophie und wirft Fragen nach dem Sinn und Zweck der gesamten Wirklichkeit auf. Die Welt ist für Camus "Chaos" und "Anarchie" (griechisch für "Herrschaftslosigkeit") - aber beim Menschen stellt er die Gabe fest, sich selbst einen Sinn zu geben.
Indem der Mensch sein Leben annimmt, lehnt er sich laut Camus gegen die Bedingungen seines Daseins auf - es gibt für ihn demnach keine andere Form der Auflehnung. Die Einstellung Camus' ist also durchaus eine kämpferische. Indem der Mensch den Tod "ablehnt", gewinnt das Leben bei Camus einen positiven Wert. Auch wenn der Mensch weiß, dass er einmal sterben muss, ist er mit dem ihm gewissen Tod niemals ausgesöhnt. Die absurde Überlegung versteht Camus letztlich als Lebensermutigung - sie fordert den Menschen auf, sich selbst zu seinem Zweck zu machen.
Was hat das alles mit Sisyphos zu tun, der sagenumwobenen Gestalt aus der griechischen Mythologie? Auch Sisyphos erträgt ein hartes Schicksal und lebt deswegen im Absurden - die Götter haben ihm die Strafe auferlegt, einen schweren Felsbrocken wieder und wieder einen Berg hinaufzurollen. Oben angekommen rollt der Felsbrocken wieder ins Tal - Sisyphos steigt herab, um diese Arbeit von neuem zu verrichten ("Sisyphosarbeit").
Diese sinnlose Aufgabe nimmt kein Ende. Doch Sisyphos erträgt sein Los und entfaltet laut Camus ein "reiches Bewusstsein", wenn er von seiner Last befreit den Weg zurück ins Tal nimmt. Durch seine "philosophische Haltung" ist er seinem Schicksal dann "überlegen". Sisyphos versinnbildlicht bei Camus den im Absurden lebenden Menschen.
Camus und die Kunst
Camus' Philosophie ist stark von dem deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche beeinflusst - laut diesem ist der Mensch auf die "Kunst" angewiesen, um nicht an der Wahrheit "zugrunde zu gehen". Camus stimmt Nietzsche darin zu - alle Erklärungen stoßen an ein Ende, mit Erklärungen kommt man der Welt nicht endgültig auf den Grund. Deswegen sieht Camus in der menschlichen Kunstfertigkeit und Schöpferkraft eine Möglichkeit, um den eigenen Empfindungen gerecht zu werden.
Man könnte sagen, dass der Mensch, der immer weiter fragt und sich niemals mit Antworten zufrieden gibt, sich selbst ins "Unglück" stürzt. Der Künstler jedoch findet Ablenkung und vielleicht auch das "Glück" - bei Camus ist das Glück natürlich immer etwas Vergängliches. Camus sieht auch in der Philosophie keinen Sinn, wenn sie sich nicht selbst mit der Kunst vermischt. Er selbst schreibt deswegen neben seinen philosophischen Abhandlungen auch Romane und Theaterstücke, in denen er seine philosophischen Gedanken in anderer Form verkleidet.
Das Ziel der Kunst ist bei Camus nicht das fertige Kunstwerk, sondern die Auseinandersetzung des Künstlers mit seinem Werk. Selbst Sisyphos ist Künstler - das Steinewälzen ist seine Kunst, doch wenn der Stein ins Tal rollt, dann ist Sisyphos allein mit sich und seinen Gedanken und darin für seine Kunst belohnt. Der "Sinn" des Lebens fällt bei Camus immer auch zusammen mit der "Sinnlichkeit" und mit den körperlichen Lustempfindungen - Lohn des Sisyphos ist auch die Müdigkeit, die ihn nach getaner Arbeit befällt. Der Weg ins Tal geht bergab und läuft sich dann wie von selbst.
Camus und die Religion
Camus ist ein Kritiker der Religionen, dessen Absolutheitsansprüche ihn abstoßen. Dennoch setzt er sich intensiv mit den Religionen auseinander, insbesondere mit dem Christentum. Die Hauptperson aus seinem ersten Roman "Der Fremde", sein Name im Roman lautet "Meursault", ist eine Art Gegenentwurf zu Jesus Christus. Der Roman erzählt die Geschichte eines Mannes im Algerien der 30er-Jahren, der "zufällig" zum Mörder wird und dafür zum Tode verurteilt wird. Der Mord "passiert", ohne dass Meursault dies überhaupt realisiert - er wird von dem auf der Messerklinge seines Widersachers reflektierenden Sonnenlicht "geblendet", als der Schuss sich löst.
Meursault ist ein zum Tode Verurteilter - Camus bezeichnet ihn als "einzigen Christus, den wir verdienen" - mit "wir" meint er die Gesellschaft, in der wir leben. Während Jesus "nicht von dieser Welt" ist (so heißt es in der Bibel), möchte Camus' Romangestalt Meursault "nicht in der Lüge" leben - deswegen kann er auch auf keinen Gott vertrauen. Kurz vor seiner Hinrichtung sagt Meursault jedoch von sich selbst, dass er glücklich ist und dass er in der Natur etwas ihm Ähnliches findet, was er "zärtliche Gleichgültigkeit" nennt.
Jesus und Meursault teilen das gleiche Schicksal, von den Menschen zum Tode verurteilt worden zu sein. Jesus und seine Anhänger finden Halt in der Vorstellung eines Schöpfergottes und einer "jenseitigen" Welt im Himmel, Meursault hingegen tröstet sich am Ende seines Lebens mit den Glücksmomenten, die er im "Diesseits" erfahren hat.
Camus hat die "Jenseitsvorstellung" von Gott und die "Diesseitsvorstellung" der uns umgebenden Welt gegenübergestellt - in der Menschheitsgeschichte sieht er eine Entsprechung im Konflikt zwischen der jüdisch-christlichen Kultur einerseits und dem Denken der alten Griechen andererseits. Die jüdisch-christliche Welt war "gespalten", in der Vorstellungswelt der griechischen Antike hingegen hatte der Mensch teil an der gleichen Natur wie die Götter - anders als in der jüdisch-christlichen Vorstellungswelt gab es statt einem einzigen Gott zahlreiche Götter, auch solche, deren Natur "halb menschlich" und "halb göttlich" war.
Camus' Schlüsselroman "Der Fremde" ist auch Zeichen seines Protests gegen die Todesstrafe - für Camus sind die Kirche und das Gericht, die Meursault im Roman verurteilen, so "willkürlich, maßlos und ungerecht" wie der christliche Gott, der seinen Sohn am Kreuz leiden lässt. Vor Gericht fühlt sich Meursault wie Jesus unschuldig verurteilt.
Camus und der Humanismus
Ohne Gott ist das Schicksal eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen "geregelt" werden muss. Das "Erdenleben" hält Camus zwar für "unerbittlich", das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch "Glück" für die Menschen bereithält.
Camus spricht davon, dass das Glück und die Absurdität aus "ein und derselben Erde" entstehen. Letztendlich wendet sich der Philosoph Camus also dem Leben zu - Camus spricht vom "Kampf des Menschen gegen Gipfel", und davon, dass dieser Kampf ein menschliches Herz "ausfüllen" kann.
Auch in Camus' letztem philosophischen Werk "Der Mensch in der Revolte" geht es um den Menschen, der jede überirdische Hoffnung verurteilt und dennoch seinen Lebenswillen bewahrt. Die "Revolte" - wörtlich übersetzt "Auflehnung" - ist für Camus die Zustimmung des Menschen zu einem Teil seiner selbst.
Symbolfigur für die Revolte ist Prometheus, eine weitere Gestalt aus der griechischen Antike. Prometheus, der dem alten Göttergeschlecht der "Titanen" entstammte, brachte den Menschen gegen den Willen von Zeus das "Himmelsfeuer" als Geschenk dar. Zur Strafe ließ Zeus, der mächtigste Gott der alten Griechen, Prometheus später an einen Felsen im Kaukasusgebirge festketten - jeden Tag kam ein Adler, um von Prometheus' Leber zu fressen.
Camus hebt die Bedeutung davon hervor, dass die Menschen einen Sinn für "Unrecht" entwickelt haben - er fordert dazu auf, diesen "Widerstand" aufrecht zu halten. In der Revolte sieht Camus einen Wert des "Miteinanders" und der "Solidarität" - diese Themen spielten in Camus' Philosophie anfangs noch eine untergeordnete Rolle. Das sich in der menschlichen Gemeinschaft spiegelnde Individuum kann sein egoistisches Wesen überwinden. Die gemeinsame Revolte offenbart laut Camus das, was es am Menschen zu verteidigen gilt.
Die "Revolte" als Antwort auf das Absurde
Möglich wird die Revolte Camus' Meinung nach dort, wo die vorstellbare "Gleichheit" der menschlichen Lebensumständen einer großen tatsächlichen "Ungleichheit" gegenüber steht - wenn der einzelne Mensch über diese Zustände nachdenkt, dann kann er zu dem Standpunkt kommen, eine "menschliche" und "vernünftige" Ordnung einzufordern.
Der Zustand der Ungleichheit entspricht der Absurdität - der Mensch kann sich darüber "empören" und mit der Revolte und der Solidarität möglicherweise eine Antwort finden, um gegen das Absurde zu protestieren. Die Solidarität der Menschen untereinander ist auch Hauptthema in Camus' erfolgreichstem Roman "Die Pest" - der Einzelne erkennt hier, dass er nicht alleine ist mit seinem Schicksal und versetzt sich in seinen leidenden Mitmenschen hinein.
Zwischen dem Absurden und der Revolte sieht Camus ein nie überwindbares "Spannungsverhältnis", er glaubt nicht an einen "Fortschritt" in der Menschheitsgeschichte in Bezug auf die "Gerechtigkeit" in dieser Welt. Das unterscheidet ihn von den Christen und den Kommunisten, die an einen "Endzweck" der Geschichte glauben - Christen an ein "besseres Leben" im Jenseits, Kommunisten an die "absolute Gerechtigkeit" in der Zukunft. ("Kommunismus" meint den "idealen" Endzustand der Geschichte durch eine "gerechte" Gesellschaftsordnung, "Sozialismus" hingegen kann verstanden werden als Weg zu gerade diesem Zustand.)
Camus nennt Christentum und Kommunismus "Fehlformen der Revolte". Beim Christentum, so wie es sich geschichtlich entwickelte, und beim Kommunismus entdeckt Camus eine "Verachtung" für den Menschen, die seiner Ansicht nach darauf beruht, dass hier ein "Bewusstsein des Absurden" verloren gegangen ist.
Camus möchte einfach zu einer Lebenshaltung aufrufen, die "wach" und sich der menschlichen Lebensbedingungen "bewusst" ist. Wie schon bei den Vorsokratikern ist auch bei Camus der Mensch das "Maß aller Dinge" (so soll der alte Philosoph Protagoras gesagt haben) - er fordert den Menschen auf, "innerhalb seiner Möglichkeiten" das "richtige Maß" zu finden.
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