von Felicia Chacón Díaz und Björn Pawlak - 20.11.2010
Leo Nikolajewitsch "Graf" Tolstoi war ein russischer Schriftsteller, Lehrer und Philosoph - seine beiden Hauptwerke "Anna Karenina" und "Krieg und Frieden" zählen zu den einflussreichsten Werken der Weltliteratur. Tolstoi machte sich in seiner Heimat aber auch als "Reformpädagoge" einen Namen und begründete ein neues Schulsystem. Zeit seines Lebens kämpfte er für die Rechte der in Armut lebenden russischen Bauern. Sein eigenes Leben war von heftigen inneren Konflikten gezeichnet. Vor 100 Jahren - am 20. November 1910 - starb Tolstoi im Alter von 82 Jahren.
Neben Fjodor Michailowitsch Dostojewski ist Tolstoi der berühmteste russische Schriftsteller. Seine Bücher zählen zu den meistgelesenen weltweit. Seine berühmtesten Werke "Krieg und Frieden" (über tausend Seiten lang) und "Anna Karenina" (annähernd tausend Seiten lang) entstanden in den Jahren 1865 bis 1877.
Oft wird sein Werk mit einem "Kosmos" verglichen, der von zahlreichen Figuren bevölkert wird, die "realistischer" wirken als die Wirklichkeit selbst. Weil die von Tolstoi ausgedachten Figuren sich innerhalb seiner Erzählungen entwickeln, wirken sie unglaublich lebendig. Tolstoi hatte eine besondere Gabe, über alltägliche Dinge zu schreiben und dabei doch tiefen Gedanken zu Themen wie Krieg, Religion, Landwirtschaft oder Feminismus (die "neue" Frauenbewegung) Ausdruck zu verleihen. Sein Schreibstil ist einfach und flüssig und immer darum bemüht, der menschlichen Natur auf den Grund zu gehen.
Als Pädagoge dachte Tolstoi darüber nach, was man bei der Erziehung der Kinder anders machen könnte als damals üblich. Er bemängelte vor allem, dass die Kinder aus den ärmeren Schichten der Bauern und der Arbeiterklasse vernachlässigt wurden. Tolstois Bestreben war es, "Humanismus" , "Demokratie" und "Freiheit" auch im Schulwesen zu verankern ("Humanismus" bezeichnet eine Weltanschauung, deren Ideal der umfassend gebildete Mensch ist. Im Mittelpunkt stehen dabei menschliche Werte und die Würde des einzelnen Menschen). Nach dem Vorbild des von ihm hoch geschätzten französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau richtete Tolstoi kurzzeitig eine eigene Dorfschule ein.
Kindheit und die frühen Jahre
Leo ("Lew") Tolstoi wurde am 9. September 1828 geboren. Nach dem im damaligen Russland gebräuchlichen "Julianischen Kalender" fällt Tolstois Geburtstag allerdings auf den 28. August 1828. Er entstammte einem russischen Adelsgeschlecht - deswegen auch die Anrede "Graf".
Das Familiengut, auf dem Tolstoi zur Welt kam, trägt den Namen "Jasnaja Poljana" und befindet sich im Verwaltungsbezirk Tula (ungefähr 200 Kilometer südlich von Moskau). Damals gab es in Russland noch die so genannte "Leibeigenschaft". Im Umkreis von Jasnaja Poljana lebten rund 350 Leibeigene - das waren Bauern, die von ihren Grundherren abhängig waren und kaum Freiheiten besaßen.
Schon als Leo zwei Jahre alt war, verlor er seine Mutter - sie starb bei der Geburt eines weiteren Kindes. Fortan kümmerte sich eine Cousine des Vaters ("Tante Tatjana") um die Erziehung der Brüder und Schwestern. Trotz des frühen Todes der Mutter beschrieb Tolstoi seine Kindheitsjahre später als glücklich. Er lebte unter einem Dach mit dem Vater, der Tante, seinen Geschwistern und der Großmutter väterlicherseits. Die verstorbene Mutter stellte sich der junge Tolstoi idealisiert als eine bescheidene und großzügige Gestalt vor - später taucht sie als solche auch in seinen Büchern auf.
Im Jahr 1836 zog die Familie nach Moskau, wo die Kinder zur Schule gehen konnten. Im gleichen Jahr starb Tolstois Vater - das damals neunjährige Kind wurde von diesem Verlust schwer getroffen. Tolstoi erzählte später, dass er damals bewusst damit begann, sich Fragen über den Sinn des Lebens zu stellen.
Nach dem Tod des Vaters wurden die Geschwister auseinander gerissen - manche von Leos Brüdern und Schwestern zogen zurück aufs Land nach Jasnaja Poljana, um dort mit Tante Tatjana zu leben. Leo hingegen blieb in Moskau, wo sich eine andere Tante namens Aline um ihn kümmerte. Nach dem Tod von Aline im Jahr 1841 zog Tolstoi zu einem Onkel in die Stadt Kasan - hier besuchte er bereits im Alter von 15 Jahren die Universität.
Jugend und Studium
Tolstoi begann zunächst mit dem Studium der orientalischen Sprachen, schon bald interessierte er sich jedoch mehr für die Rechtswissenschaften und wechselte den Studiengang. Er fühlte sich mit dem universitären System niemals wohl und war entsprechend auch kein besonders guter Student.
Im Jahr 1847 verließ er die Universität ohne Abschluss. Die Zeit hatte er trotzdem genutzt, insbesondere um Sprachen zu lernen. So beherrschte er - mehr oder weniger gut - schon als junger Mann neben seiner Muttersprache Russisch die Sprachen Arabisch, Türkisch, Latein, Deutsch, Englisch und Französisch (zum Ende seines Lebens sprach er sogar zwölf verschiedene Sprachen).
Nach dem Abbruch seines Studiums ging Tolstoi - ohne eine Plan davon zu haben, wie es weitergehen sollte - zurück nach Jasjana Poljana. Dort versuchte er als 20-jähriger, soziale Reformen für die leibeigenen Bauern durchzusetzen, um deren Lebensverhältnisse zu verbessern.
Gleichzeitig entwickelte er zu dieser Zeit eine Leidenschaft für das Glücksspiel, was dazu führte, dass er große Schulden machte. In jungen Jahren war Tolstoi auch dem Alkohol alles andere als abgeneigt. Zudem stürzte er sich in zahlreiche Liebesaffären. Tolstoi blieb, um diesen Lebensstil zu pflegen, nicht durchgängig in Jasjana Poljana - oft trieb er sich wochenlang in den großen Städten Moskau und Sankt Petersburg herum.
Kriegserlebnisse: Tolstoi wird Soldat
Im Jahr 1851 entschied sich Tolstoi dafür, seinen Lebensstil zu ändern und dem Vorbild seines jüngeren Bruders Nikolai zu folgen. Dieser erzählte ihm bei einem Besuch von seinem Leben als Soldat. Tolstoi wurde also "Artilleriefähnrich" in einem kaukasischen Regiment. ("Artillerie" ist der Fachausdruck für Geschütze, "Fähnrich" ist ein militärischer Dienstgrad.)
Als Soldat lernte Tolstoi Land und Landbevölkerung besser kennen - eine wichtige Voraussetzung für seine sich immer stärker entwickelnde gesellschaftskritische Haltung und für seine Suche nach verbindlichen Werten. Im Jahr 1852 schrieb er seine erste Erzählung, die den Titel "Kindheit" trug - in den Jahren 1854 und 1857 folgten die Fortsetzungen "Knabenalter" und "Jünglingsjahre".
Beim Ausbruch des so genannten Krimkrieges ließ er sich zur "Donau-Armee" versetzen. Der Krimkrieg dauerte von 1853 bis 1856 und war eine militärische Auseinandersetzung zwischen Russland auf der einen und dem Osmanischen Reich, Frankreich und Großbritannien auf der anderen Seite. Nach dem Friedensschluss beendete er sein Leben als Soldat, um einmal mehr nach Jasnaja Poljana zurückzukehren.
Zwei seiner Brüder starben bald darauf an Tuberkulose, und Tolstoi war unschlüssig über seine Zukunft. Er begann mit ersten Vorarbeiten zu seinen großen Romanen und beschäftigte sich daneben intensiv mit der "Volkspädagogik". Er unternahm den Versuch, in Jasjana Poljana eine Schule zu gründen, um die Kinder der Leibeigenen zu unterrichten. Außerdem führten ihn Reisen nach Europa.
Ehe mit "Sonja" und die Arbeit an "Krieg und Frieden"
Tolstois Leben veränderte sich grundlegend, nachdem er im Jahr 1862 mit der erst 19 Jahre jungen Sofia Andrejewna Behrs ("Sonja") den Bund der Ehe einging. Das Paar hatte später 13 Kinder miteinander - fünf von ihnen verstarben allerdings schon sehr jung. Leo und Sonja ließen sich in Jasnaja Poljana nieder.
Mit der Unterstützung seiner Ehefrau begann Tolstoi damit, seine großen Romane in die Tat umzusetzen. Sonja ordnete Tolstois Notizen und Manuskripte, schrieb Tausende von Seiten ab und kümmerte sich um die finanziellen Angelegenheiten der Familie.
In den Jahren 1865 bis 1869 verfasste Tolstoi sein umfangreichstes Werk, welches den Titel "Krieg und Frieden" trägt. Das Buch behandelt die Kriegsjahre zu Beginn des 19. Jahrhunderts (genauer gesagt die Jahre 1805 bis 1812), als der französische Kaiser Napoleon Bonaparte mit seinem Heer nach Russland eindrang, um es seinem Großreich einzuverleiben.
Tolstoi entfaltet in diesem Buch die Lebensgeschichten von unzähligen Figuren, um die "Natur" sowohl des Krieges als auch des Friedens abzubilden. Seine Fragen kreisen darum, wie sich der Krieg auf die Psychologie des Einzelnen und auch auf die der Gruppe auswirkt. Seine Beschreibungen berücksichtigen dabei alle Gesellschaftsschichten Russlands.
Klicke auf den Weiter-Pfeil, um zum zweiten Teil des Artikels über Leo Tolstoi zu gelangen. Dort erfährst du, wie sein berühmtes Werk "Anna Karenina" entstand, für welche politische Bewegung er sich einsetzte und wie er seine letzten Jahre verbrachte.
Hinweis zum Copyright: Die private Nutzung unserer Webseite und Texte ist kostenlos. Schulen und Lehrkräfte benötigen eine Lizenz. Weitere Informationen zur SCHUL-LIZENZ finden Sie hier.
Wenn dir ein Fehler im Artikel auffällt, schreib' uns eine E-Mail an redaktion@helles-koepfchen.de. Hat dir der Artikel gefallen? Unten kannst du eine Bewertung abgeben.