von Sebastian Zender - 28.08.2009
Am 20. August 2009 fand in Afghanistan zum zweiten Mal seit dem Sturz des Taliban-Regimes eine Präsidentschaftswahl statt. Voraussichtlich wird das offizielle Endergebnis der Wahl erst Mitte September verkündet. Nach einem ersten Zwischenstand der Stimmauszählung, den die afghanische Wahlkommission am 25. August bekannt gab, liegt der Amtsinhaber Hamid Karzai mit 41 Prozent nur knapp vor seinem stärksten Konkurrenten Abdullah Abdullah. Wenn es bei diesem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden Kandidaten bleibt, müssen die Afghanen Anfang Oktober in einer Stichwahl darüber entscheiden, wer Präsident wird.
Von 1997 bis 2001 hatten die radikal-islamischen Taliban in beinahe ganz Afghanistan das Sagen. Nur im Nordosten des Landes leistete die so genannte "Nordallianz", ein Militärbündnis verschiedener Gruppen gegen die Taliban, Widerstand. Während ihrer Herrschaft unterdrückten die streng religiösen Taliban vor allem Frauen und Mädchen und ließen zahlreiche Menschen hinrichten. Sie verboten alles, was nicht in ihr Weltbild passte, und schlossen fast sämtliche Schulen und Universitäten.
Die Taliban, die sich 1994 zunächst als kleine politische und militärische Gruppe formierten, wurden vom Nachbarland Pakistan mit Geld unterstützt. Auch die USA zählten anfangs zu den Unterstützern der Taliban. In Afghanistan herrschten nach der zehnjährigen Besatzung durch die Sowjetunion, die erst 1989 endete, immer noch chaotische Zustände. Von der Herrschaft der Taliban erhofften sich die USA die notwendige Stabilität, um eine Erdgas-Pipeline (Pipelines sind Rohrleitungen zum Transport von Erdöl, Erdgas oder Wasser) zwischen Turkmenistan und Pakistan durch das Land bauen zu können.
Vom Sturz der Taliban bis zur neuen afghanischen Verfassung
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 warfen die USA den Taliban vor, Terroristen (darunter Osama bin Laden, der als Drahtzieher der Anschläge gilt) Unterschlupf zu gewähren und sie in Ausbildungslagern zu trainieren. Mit Hilfe der Nordallianz gelang es einer internationalen Armee unter Führung der USA, das Taliban-Regime zu stürzen, doch der Krieg forderte auch viele zivile Opfer ("zivil" bedeutet "nicht-militärisch"). (Weitere Informationen dazu findest du im Artikel Krisensituation in Afghanistan.)
Im Dezember 2001 wurde eine Übergangsregierung für Afghanistan gegründet. Auf Betreiben der USA und der Vereinten Nationen (UNO) wurde Hamid Karzai zu ihrem Präsidenten ernannt. Die Übergangsregierung und die internationalen Truppen, die nach dem Krieg in Afghanistan stationiert wurden, hatten von Anfang an Schwierigkeiten, die Kontrolle über das gesamte Land zu behalten. Immer wieder kam es zu Aufständen - und die Taliban und ihre Sympathisanten verbreiteten durch Bombenanschläge und Selbstmordattentate Angst und Schrecken. Ein weiteres Problem besteht darin, dass der Einfluss der zahlreichen Stammesfürsten in den ländlichen Regionen Afghanistans nach wie vor sehr groß ist. In Afghanistan gibt es 36 unterschiedliche Volksstämme. Die beiden größten sind die der Paschtunen und der Tadschiken. In der afghanischen Politik spielt die Zugehörigkeit zu einem Volksstamm noch immer eine gewichtige Rolle.
Ende 2003 wurde eine "Loya Jirga" (eine große Ratsversammlung der Stammesfürsten) einberufen, die am 4. Januar 2004 mehrheitlich einer neuen Verfassung für Afghanistan als islamische Republik zustimmte. Aus den ersten Präsidentschaftswahlen ging Hamid Karzai, der Präsident der Übergangsregierung, mit 55 Prozent der Stimmen als klarer Sieger hervor und war nun auch der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes.
Karzais Herausforderer: Abdullah Abdullah
Obwohl man sowohl in Afghanistan als auch im Ausland große Hoffnungen auf Karzai setzte, hat sich die schwierige Lage während seiner Amtszeit kaum gebessert: "Korruption" (Bestechlichkeit) ist in der afghanischen Politik weit verbreitet, Bombenanschläge sind immer noch an der Tagesordnung und in manchen Gebieten des Landes gewinnen die Taliban wieder an Einfluss.
Zur zweiten Präsidentschaftswahl am 20. August 2009 sind insgesamt 36 Kandidaten angetreten. Als einzig ernstzunehmender Konkurrent Karzais galt von Anfang an Abdullah Abdullah. Er war ein führendes Mitglied der Nordallianz und wurde 2001 von Karzai zum Außenminister Afghanistans ernannt. Diesen Posten behielt er auch nach den Wahlen von 2004. Als Karzai ihn 2006 auf einen weniger wichtigen Posten setzen wollte, verließ Abdullah die Regierung. Die beiden Kandidaten, zwischen denen die Wahl nun entschieden wird, sind also alte Weggefährten. Während des Wahlkampfs warf Abdullah Karzai immer wieder vor, die Chance auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen in Afghanistan verspielt zu haben. Die Regierung Karzais, so Abdullah, habe die Verbindung zum Volk verloren und sei unfähig, den wieder im Vormarsch befindlichen Taliban Einhalt zu gebieten.
Im Vorfeld der Wahl: Einschüchterung der Wähler durch die Taliban
Der Wahlkampf und die Vorbereitungen zur Wahl wurden von einer neuen Welle der Gewalt überschattet. Die Taliban, die zum Boykott der Wahl aufgerufen hatten, verübten bereits im Vorfeld der Wahl vermehrt Anschläge, bei denen viele Menschen ums Leben kamen. Zwei Tage vor der Wahl wurde sogar der Präsidentenpalast in der Hauptstadt Kabul mit Raketen beschossen. Traurigerweise hatten die Taliban mit ihrer Einschüchterungstaktik anscheinend Erfolg. Während sich an den ersten Präsidentschaftswahlen von 2004 noch 70 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten, gaben diesmal von den 15 Millionen Afghanen, die für die Abstimmung registriert waren, nur sechs Millionen ihre Stimme ab. Diese sehr geringe Wahlbeteiligung lässt sich sicherlich auch darauf zurückführen, dass es den internationalen Truppen und der afghanischen Polizei nicht gelungen ist, vor und während der Wahlen für Sicherheit zu sorgen.
Wie viel Mut die afghanischen Wählerinnen und Wähler bei ihrer Stimmabgabe aufbringen mussten, lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Damit niemand seine Stimme zweimal abgeben kann, muss sich jeder, der zur Wahl geht, nach seiner Stimmabgabe einen Finger mit Tinte markieren lassen, die für mehrere Tage sichtbar bleibt. Die Taliban hatten gedroht, jedem, den sie nach der Wahl mit Tinte am Finger entdecken, den Finger abzuschneiden. In mindestens zwei Fällen haben sie diese Drohung auch wahr gemacht. Kurz nach der Verkündung der ersten Wahlergebnisse am 25. August kam es in der Stadt Kandahar, die als Hochburg der Taliban gilt, erneut zu schweren Bombenanschlägen, bei denen mindestens 36 Menschen starben.
Zahlreiche Fälle von Wahlbetrug gemeldet
Neben der angespannten Sicherheitslage und der geringen Wahlbeteiligung wirft auch der Verdacht auf massiven Wahlbetrug ein düsteres Licht auf die junge afghanische Demokratie: Der afghanischen Wahlkommission in Kabul liegen bereits mehr als 790 Verdachtsfälle zur Prüfung vor. Noch vor der Verkündigung der ersten Teilergebnisse hatten sowohl Abdullah als auch Karzai verkünden lassen, sie seien der Sieger der Wahl. Nun beschuldigen sie sich gegenseitig, die Abstimmung manipuliert zu haben.
Abdullah legte bei einem Auftritt zum Beweis für seine Vorwürfe hunderte Wahlzettel mit dem Kreuz an seinem Namen vor, die angeblich nach der Wahl aus den Wahlboxen entfernt wurden. Außerdem zeigte er Fotos eines Mannes, der in drei verschiedenen Wahllokalen seine Stimme für Karzai abgab. Aus dem Süden Afghanistans wird berichtet, dass auch aus besonders unsicheren Gegenden, in denen kaum jemand zur Wahl gegangen ist, Wahlboxen voller Karzai-Stimmen nach Kabul geliefert wurden.
Der Westen schweigt
Trotz der schweren Vorwürfe halten sich Politiker aus den USA und Europa bisher mit Kommentaren zur Präsidentschaftswahl zurück. Auch ausländische Wahlbeobachter hatten Unregelmäßigkeiten bei der Wahl festgestellt, sie aber als insgesamt fair bezeichnet. Da sie sich allerdings aufgrund der schlechten Sicherheitslage kaum aus den großen Städten heraustrauten, konnten sie sich ohnehin kein umfassendes Bild machen. Inzwischen stellt sich nicht mehr die Frage, ob es Wahlbetrug gegeben hat, sondern nur noch die Frage nach seinem Ausmaß.
Die Zurückhaltung, die westliche Politiker in dieser Frage an den Tag legen, hat wahrscheinlich zwei Gründe: Zum einen befürchtet man, dass die Anhänger Abdullahs ihren Protest gegen den vermeintlichen Wahlbetrug Karzais auf die Straße tragen könnten. Dadurch könnte es zu noch mehr Gewalt kommen. Zum anderen war beim Sturz der Taliban das erklärte Ziel der damaligen US-Regierung unter Präsident George W. Bush, in Afghanistan eine Demokratie zu errichten. Auch die "Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe", kurz "ISAF" (aus dem Englischen: International Security Assistance Force), an der auch deutsche Soldaten beteiligt sind, erhebt den Anspruch, die demokratische afghanische Regierung im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen. Sollten sich die Vorwürfe des massiven Wahlbetrugs als wahr herausstellen, könnte von demokratischen Wahlen allerdings kaum noch die Rede sein. Damit kämen westliche Politiker in starke Erklärungsnot. Die afghanische Wahl hätte dann zwar keinen echten Gewinner, aber dafür viele Verlierer - alle Afghaninnen und Afghanen, die trotz allem ehrlich ihre Stimme abgegeben haben.
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