von Anna Schäfer - 17.10.2006
Die Anschläge auf das World Trade Center in New York, die Bomben in den Zügen in Madrid und die U-Bahn-Attentate in London - was sind die Gründe dafür, dass junge Menschen bereit sind, sich für ihren Glauben in die Luft zu sprengen? Die Journalistin Souad Mekhennet ist gemeinsam mit zwei Kollegen dieser Frage nachgegangen und hat mit Muslimen in verschiedenen Ländern gesprochen. Die Ergebnisse dieser Arbeit wurden nun in einem Buch veröffentlicht. Das Wichtigste erzählte Souad Mekhennet dem Hellen Köpfchen aber noch einmal in einem Interview.
Helles Köpfchen: Wie sind Sie darauf aufmerksam geworden, dass sich jugendliche Einwanderer immer stärker radikalisieren?
Souad Mekhennet: Vor allem nach den Anschlägen vom 11. September habe ich mir selbst die Frage gestellt, wie es dazu kommen konnte, dass diese jungen Männer bereit waren, sowohl einen Massen- als auch Selbstmord zu begehen. Ich fing an, verstärkt in verschiedenen Ländern unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen Muslimen zu recherchieren, um zu verstehen, was in ihnen vorgeht.
HK: Oft sind das ja die Kinder oder sogar Enkelkinder der ersten Einwanderer, die selbst gar nicht radikal eingestellt waren. Woher kommt dieser Wandel?
Mekhennet: Gerade unter in Europa aufgewachsenen jugendlichen Muslimen haben viele den Glauben an die Gesellschaft und die Politik verloren. Es gibt in ihrem Leben oft einen Zeitpunkt, an dem sie das Gefühl haben, nicht zu der Gesellschaft zu gehören, in der sie aufgewachsen sind. Gleichzeitig fühlen sie sich aber auch nicht der Gesellschaft zugehörig, aus der ihre Eltern stammen.
HK: Und der Glaube gibt ihnen wieder Halt im Leben?
Mekhennet: Ja, sie suchen eine neue Identität, und die finden sie im Glauben. Sie sind alle Muslime, egal welche Hautfarbe sie haben und woher sie kommen, das schafft ein großes Gemeinsamkeitsgefühl. Gleichzeitig fangen viele von ihnen an, sich dafür zu interessieren, was mit ihren Glaubensbrüdern und -schwestern in Krisen- und Kriegsgebieten geschieht. Sie glauben, dass ein Krieg gegen ihre Religion geführt wird und haben leider auch zeitgleich den Glauben in Institutionen wie die Vereinten Nationen verloren.
HK: Und aus diesem Gefühl heraus werden Jugendliche zu so genannten "Dschihadisten", also zu Kämpfern gegen "Ungläubige" in dem aus ihrer Sicht "Heiligen Krieg"?
Mekhennet: Ja, viele radikale Islamisten versuchen die Jugendlichen an diesem Punkt abzuholen und für ihre politischen Ziele zu gewinnen. Man trichtert ihnen ein, dass ein Kreuzzug gegen ihre Religion geführt wird und dass sie - die Jugendlichen - auch eine Pflicht hätten, etwas dagegen zu tun.
HK: Gibt es tatsächlich Jugendliche bei uns in Europa, die bereit sind, als Selbstmordattentäter zu sterben?
Mekhennet: Wir hatten bereits Jugendliche, die bereit waren, zu sterben, und die gestorben sind, wie die Attentäter von London. Und wir müssen davon ausgehen, dass der Boden, auf dem für solche Taten rekrutiert werden kann, im Moment leider sehr fruchtbar ist. Das liegt vor allem an den ungelösten Konflikten im Irak und Palästina, aber auch an solchen Diskussionen wie um die Mohammed-Karikaturen.
HK: Hat sich die Stimmung unter den Einwanderern aus muslimischen Ländern in Deutschland, Österreich und der Schweiz in den letzten Jahren verändert?
Mekhennet: Es ist tatsächlich so, dass sich viele Muslime unter einen Generalverdacht gestellt sehen. Die Art und Weise, wie manchmal über das Thema diskutiert wird, stört viele. Dennoch traut sich die Mehrheit nicht, dagegen zu protestieren, weil sie Angst haben, dann erst recht als Radikale abgestempelt zu werden.
HK: Die Kluft und das Misstrauen zwischen den Muslimen und dem Westen sind also gewachsen?
Mekhennet: Ich denke, dass viele nach den Anschlägen vom 11. September mehr oder weniger gezwungen waren, sich mit ihrem Glauben auseinander zu setzen. Und ich habe selbst beobachtet, wie Studenten, die ich aus der Uni kannte und die vorher wirklich kaum etwas mit Religion am Hut hatten, auf einmal anfingen, viel über den Islam zu sprechen und zwar so, als müssten sie ihn verteidigen. Die Stimmung in weiten Teilen Europas hat leider dafür gesorgt, dass sich viele noch mehr abgegrenzt haben.
HK: Welche Konsequenzen sollten Ihrer Meinung nach aus den Ergebnissen Ihrer Recherche gezogen werden?
Mekhennet: Ich denke, wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, dass uns die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre mit Sicherheit beschäftigen wird. Und vor allem muss den Menschen klar sein, was die Motive für diese Radikalisierung sind und waren. Und die hängen meistens mit politischen Konflikten zusammen. Viele Muslime glauben dem Westen nicht mehr, dass Menschenrechte tatsächlich für alle Menschen gleich gelten. Sie führen als Argument an, dass ein Krieg im Irak ohne UN-Mandat und ohne wirkliche Gründe geführt wurde und es keine Konsequenzen für die handelnden Parteien gegeben hat. Sie führen Guantanamo, Abu Ghuraib und all die anderen Grausamkeiten an, die im Namen des "Krieges gegen den Terror" begangen wurden. Tatsächlich haben all diese Dinge nur noch mehr dazu beigetragen, dass der Graben zwischen den Gesellschaften tiefer wurde. Ich hoffe also, dass vor allem die Politiker endlich anfangen werden, durch ihr Handeln den radikalen Predigern die Argumente wegzunehmen.
Souad Mekhennet, Claudia Sautter, Michael Hanfeld: Die Kinder des Dschihad. Die neue Generation des islamistischen Terrors in Europa. 224 Seiten. Piper Verlag, ISBN 349204933-8/-7. 14,00 Euro/24,90 SFR.
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