von Britta Pawlak - 23.01.2007
Der in Deutschland aufgewachsene Türke Murat Kurnaz wurde im Jahr 2002 im Alter von 19 Jahren als angeblicher "Terrorist" inhaftiert - ohne Anklage, ohne Beweise und ohne Verurteilung. Viereinhalb Jahre saß der junge Bremer im US-Gefangenen- lager Guantánamo Bay auf Kuba. Nach seiner Freilassung sagte er aus, während seiner Haft mehrmals misshandelt und gefoltert worden zu sein. Politiker der damaligen Bundesregierung, die über den Fall informiert waren, stehen nun im Verdacht, die Freilassung des unschuldig Inhaftierten bewusst verhindert zu haben.
Im Jahre 2001 begann der damalige Schiffsbaulehrling Murat Kurnaz, sich ausgiebig mit den Schriften des Islam auseinander zu setzen. Er besuchte regelmäßig die Moschee, ließ sich einen langen Bart wachsen und kam in Kontakt mit der Organisation "Jama at al-Tabligi", die als "friedliche religiöse Gruppierung" eingestuft wird. Kurnaz reiste im Oktober 2001 nach Pakistan. Nach eigenen Angaben wollte er dort eine Koranschule besuchen und sich in die Lehren des Islam vertiefen. Er plante seine Rückkehr noch im Jahre 2002, da er seine türkische Ehefrau in Deutschland erwartete.
Wenige Tage nach seiner Ankunft in Pakistan begannen die ersten Bombardierungen auf das Nachbarland Afghanistan durch das Militärbündnis unter US-Führung. Nach den verheerenden Anschlägen am 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon hatten die USA mit Härte zum "Kampf gegen den Terror" aufgerufen, einen Angriff auf Afghanistan geplant und sich auf die Suche nach Osama Bin Laden begeben, der als "Anführer der Terroristen" galt. Die Hauptphase des Afghanistan-Krieges endete im Dezember 2001, nachdem die Hauptstadt Kabul und die Provinzhauptstädte Kandahar und Kunduz gefallen waren und das radikal-islamische Taliban-Regime gestürzt wurde.
Verhaftung ohne Beweise
Bei einer Routinekontrolle wurde Murat Kurnaz am 1. Dezember von pakistanischen Behörden festgenommen und in ein Gefängnis in Kandahar gebracht. Er wurde an die US-Streitkräfte übergeben und im Februar 2002 nach Guantánamo Bay auf Kuba überführt. Die Behandlung der Gefangenen dort geriet immer wieder heftig in Kritik, US-Soldaten wurde sogar vorgeworfen, viele Häftlinge jahrelang wiederholt misshandelt und gefoltert zu haben.
Viele der Gefangenen sind ohne eindeutige Beweise inhaftiert worden. Den so genannten "ungesetzlichen Kombattanten" werden die üblichen Rechte für Kriegsgefangene verweigert: Sie dürfen sich nicht durch einen eigenen Anwalt vertreten lassen, können nicht von Angehörigen besucht werden und nicht vor ordentlichen Gerichten ("Nicht-Militärgerichten") gegen ihre Behandlung klagen. Menschenrechtsorganisationen werfen den USA vor, damit massiv gegen die Menschenrechte zu verstoßen.
In Deutschland begann ein Ermittlungsverfahren gegen Murat Kurnaz. Er stand im Verdacht, von Pakistan aus eine Reise nach Afghanistan beabsichtigt zu haben, um sich am "Dschihad" - also am "heiligen Kampf" der radikalen Muslime gegen die "Ungläubigen" - zu beteiligen. Es gab jedoch keinerlei Beweise dafür, dass Kurnaz Verbindungen zu islamistischen Organisationen hätte. Man stufte Kurnaz als verdächtig ein, weil die Eltern eines Freundes, Selcuk Bilgin, ihrem Sohn vorgeworfen hatten, in Afghanistan gegen die USA kämpfen zu wollen. Daraufhin prüfte man das gesamte Umfeld Bilgins.
Grundloses Einreiseverbot für den unschuldig Inhaftierten
Bereits Anfang 2002 wurden die deutschen Behörden von der Gefangenschaft des in Deutschland aufgewachsenen Türken in Kenntnis gesetzt. Auch der Bundesnachrichtendienst - der deutsche Geheimdienst - meldete dem Kanzleramt, dass Murat Kurnaz in Kuba inhaftiert sei. Die Bundesregierung fühlte sich jedoch zunächst nicht zuständig, da Kurnaz türkischer Staatsbürger ist. Die USA gestatteten deutschen Behörden im September 2002, den Gefangenen zu befragen. Nach dem Verhör von Kurnaz in Guantánamo war man der Überzeugung, dass der Inhaftierte "zur falschen Zeit am falschen Ort" gewesen wäre, nicht aber mit Terrorismus-Gruppierungen in Verbindung gebracht werden könne.
Während ihres Besuchs in Washington im Januar 2006 führte Bundeskanzlerin Merkel auch Gespräche über eine mögliche Freilassung des Häftlings Kurnaz. Sein deutscher Anwalt sagte, dass er von diesem Zeitpunkt an regelmäßig über den neuesten Stand informiert worden war. Erst am 24. August 2006 - nach viereinhalb Jahren Gefangenschaft - wurde der mittlerweile 24-jährige Kurnaz schließlich freigelassen und konnte nach Deutschland zurückkehren. Die Staatsanwaltschaft Bremen nahm die Ermittlungen kurzzeitig wieder auf, teilte aber bereits zwei Monate später mit, dass das Verfahren eingestellt worden sei, da es keinerlei Beweise für eine Strafhandlung Kurnaz' gab.
Politiker der damaligen Bundesregierung massiv in Kritik
Einige Wochen nach seiner Rückkehr wandte sich der junge Türke sowohl in einem Zeitungs-Interview als auch in einer Talkshow an die Öffentlichkeit. Er erhob schwere Vorwürfe gegen das US-Militär und deutsche KSK-Soldaten ("Kommando Spezialkräfte") und sagte aus, während seiner Haft mehrmals misshandelt und gefoltert worden zu sein. Die Bundeswehr bestätigte, dass seit November 2001 deutsche Soldaten des "Kommandos Spezialkräfte" in Afghanistan stationiert waren, die Kontakt zu Kurnaz hatten, wies aber die Vorwürfe der Folterung zurück. In der Sache ist nun ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Murat Kurnaz sagte zudem aus, während seiner Inhaftierung sogar zweimal von Deutschen verhört worden zu sein, was die Bundesregierung jedoch bestreitet.
Ein Untersuchungsausschuss soll nun klären, warum sich die damalige Bundesregierung nicht für die Freilassung des Türken Kurnaz einsetzte und ihm stattdessen eine Einreisesperre erteilte. Es besteht der Verdacht, dass Politiker der ehemaligen Bundesregierung aus SPD und Grünen dem unschuldig Inhaftierten die Freilassung bewusst verwehrten. Scharf in Kritik stehen jetzt Außenminister Steinmeier, der damals Kanzleramtschef war, der ehemalige Bundesnachrichtendienst-Präsident August Hanning, der heute Staatssekretär des Innenministeriums ist und der amtierende Präsident des Bundesnachrichtendienstes Ernst Uhrlau. Der SPD-Europaabgeordnete Kreissl-Dörfler bezeichnete das Verhalten der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung als "beschämend und erschütternd".
Steinmeier wies die schweren Vorwürfe entschieden zurück. "Die lange Leidensgeschichte von Herrn Kurnaz ist erschütternd. Das lässt auch mich nicht kalt", sagte er, betonte aber gleichzeitig, dass er nichts von einem damaligen Angebot der USA zur Freilassung Kurnaz' wisse. Wer auch immer politisch die Verantwortung trägt: Fest steht, dass ein in Deutschland aufgewachsener junger Türke ohne jegliche Beweise vom US-Militär im Gefangenenlager auf Kuba festgehalten worden war, durch politische Entscheidungen weiterhin inhaftiert blieb - und insgesamt viereinhalb Jahre seines Lebens unschuldig in Gefangenschaft verbringen musste. Murat Kurnaz soll psychisch immer noch sehr unter der Zeit seiner Haft im US-Gefängnis Guantánamo Bay leiden.
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