von Luisa - 25.02.2008
Es war wieder soweit: Mehr als neun Millionen Schüler halten - mehr oder weniger stolz - ihre Halbjahreszeugnisse in den Händen. Immer wieder kommt es zu heftigen Diskussionen zwischen zweier "Extreme" von Eltern: Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die jeglichen Druck von den Schultern ihrer Kinder nehmen möchten und sie deshalb auf Schulen schicken, auf denen sie lernen, wie sie ihre Namen tanzen - und auf der anderen Seite die Partei der Eltern, die ihre Kinder am liebsten schon im zarten Alter von acht Jahren auf ein Militärinternat schicken wollen, um dort gedrillt und für ihr späteres Leben "abgehärtet" zu werden, damit sie die besten Karrierechancen von allen haben.
Immer wieder kommt die Frage auf, ob Schüler durch Leistungsdruck und Disziplin oder durch eine stärkere individuelle Förderung besser lernen können. Auch über das Notensystem wird oft debattiert. Viele sehen Schulnoten als wichtig und notwendig an, andere würden sie am liebsten abschaffen. Hamburg will für dieses Problem jetzt die perfekte Lösung gefunden haben: Das so genannte Kompetenzraster. Zunächst nur als freiwilliges Projekt angeboten, soll dieses Raster bald das gute alte Zeugnis ersetzten. Was genau das heißt, ist allerdings von Schule zu Schule unterschiedlich. Im Hamburger Projekt wird zunächst nur das normale Zeugnis durch ein seitenlanges Formular ersetzt, auf dem dann für jeden Punkt des Lehrplanes angegeben ist, ob das Kind diese Fähigkeit "sicher" erlernt hat oder doch noch "unsicher" ist.
Das Ganze soll dazu dienen, den Kindern die Angst vor den Noten zu nehmen und verschiedene Einblicke in die Fähigkeiten des jeweiligen Kindes zu geben. Denn eine Note sagt nicht immer viel über die Stärken und Schwächen eines Schülers aus. Eine solche Bewertung beschränkt sich allerdings zunächst nur auf das Zeugnis. Noten für Diktate, Mathearbeiten und dergleichen wird es weiterhin geben. Auch wird dadurch nicht die Bewertungsskala herabgesetzt - oder gar das Sitzenbleiben abgeschafft. Für eine Versetzung müssen die gleichen Leistungen erbracht werden wie vorher.
Ich frage mich jedoch, was das Projekt eigentlich für einen Sinn haben soll. Wo ist denn der Unterschied dazu, ob nun auf dem Zeugnis steht, dass man in Mathematik "sehr unsicher" ist und keine ausreichende Leistung gezeigt hat, oder ob dort eine 5 steht? Was diese Bewertung heißt, kann sich jeder Schüler doch sowieso an den Händen abzählen. Er muss nur einmal einen flüchtigen Blick in sein Arbeits-Heft werfen, und schon werden die bösen roten Zahlen ihm die gemeinte Note hinter dem Begriff "unsicher" offenbaren. Eltern, die wissen wollen, wo die Schwächen ihres Kindes liegen und wo es gefördert werden sollte, haben dieses Heft vermutlich sowieso des öfteren in die Hände genommen. Auch ohne das Kompetenzraster werden sie dann wissen, dass ihr Kind in der Geometriearbeit Probleme hatte - genauso haben auch die Lehrer im Blick, welcher Schüler welche Noten geschrieben hat. Dass dies noch mal in einem Zeugnis unter dem Punkt Geometrie bestätigt wird, könnte man auch als Papierverschwendung bezeichnen.
Und eine bessere Förderung der Talente oder mehr Beachtung der Schwächen einzelner Schüler wird dadurch auch nicht erreicht. Hier liegt das Problem wohl eher darin, dass die Klassen häufig zu groß sind und die Lehrer nur begrenzt Zeit und Möglichkeiten haben, auf jedes Kind individuell einzugehen. Ein weiteres Schulprojekt hat den Namen "Eigenverantwortliches Arbeiten". So bekommen Grundschüler eine Mappe in die Hand gedrückt, in der sie sämtliche Arbeitsaufträge für zwei Schuljahre in Mathematik und Deutsch vorfinden. Die Kinder dürfen sich dann aussuchen, wann sie was erarbeiten. Einzige Vorgabe: Am Ende der zwei Jahre muss alles erledigt sein.
Und es scheint zu funktionieren. Die meisten Schüler lernen tatsächlich, eigenständiger zu werden als ihre Altersgenossen und hängen auch im Stoff nicht hinterher. Einzig und allein das viel zu lange Zeugnis wird von den weiterführenden Schulen kritisiert. Und schnell wurde eine Ausdehnung dieser Idee auf die höheren Klassen gefordert. Tatsächlich gibt es solch ein Projekt auch an meiner Schule für die fünften und sechsten Klassen. "EVA-Phase" (Abkürzung für "Eigenverantwortliches Arbeiten") heißt dies und bedeutet für zwei Wochen im Schuljahr die Hälfte an Arbeitsaufwand für die Schüler. Schnell bekam "EVA" von uns nämlich den Spitznamen "eigenverantwortliches Abschreiben". Erledigte in der 5. Klasse noch jeder die Arbeitsaufträge der verschiedenen Fächer, entdeckten wir spätestens in der 6. Klasse die Vorteile der Gruppenarbeit. "Du machst Mathe und ich Deutsch", und schon hatte man nur noch die Hälfte zu tun - und am Schluss auch nur die Hälfte gelernt. Die Entdeckung der Vorteile des Abschreibens ist garantiert ein Punkt, der dieses Projekt in den höheren Klassenstufen scheitern lassen würde.
Und da ist ja auch noch die Sache mit der Pubertät. Legt man 13-Jährigen einfach eine Mappe hin, die sie doch bitte auf sich gestellt abarbeiten sollen, würde der Lernfaktor wohl eher in der richtigen Anwendung von Schminke oder der Frage nach dem coolsten Fußballverein bestehen. Die meisten Jugendlichen in diesem Alter tun sowieso nur gerade so das Nötigste. Würde man sie ganz ohne Anleitung und Kontrolle lernen lassen, käme das der Aufforderung gleich, gar nicht erst in die Schule zu kommen.
Ohne eine Bezugsperson - ob im Elternhaus oder auch in der Schule - würde das Ganze in einem Chaos enden. Teenager haben eben die Eigenschaft, Freiräume nicht nur zu nutzen, sondern geradezu auszunutzen. Absolut falsch ist es natürlich, wenn sie von den Eltern oder Lehrern auf Schritt und Tritt überwacht werden. Ich denke aber schon, dass es in diesem Alter einige klare Vorschriften geben sollte. Eine Arbeitsmappe, die über mehrere Jahre hinweg ausgefüllt werden soll, erfüllt nicht gerade diese Voraussetzung. In der Grundschule könnte das Projekt der Hamburger Schule tatsächlich hilfreich sein. Zumindest, wenn man nicht den Kompromiss aus normalem Unterricht mit Notenvergabe und ewig langem Kompetenzraster anstrebt. In den höheren Klassen scheitert es meiner Ansicht nach allerdings in der Umsetzung.
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