von Anne Walkembach - 11.10.2005
Das ziemlich reiche Europa und das größtenteils bitterarme Afrika sind im Norden Marokkos nur durch ein paar Stacheldraht-Zäune voneinander getrennt. Weil sie ihrem Elend in Afrika entfliehen und an unserem Wohlstand teilhaben wollen, haben in den vergangenen Wochen tausende Afrikaner versucht, diese Grenze zu durchbrechen. Dabei sind mindestens neun Menschen gestorben.
Ganz oben im Norden Afrikas liegt Marokko, und von seiner Küste ist Spanien zum Greifen nahe. Viele Afrikaner versuchen immer wieder, mit zum Teil schrottreifen Booten das Mittelmeer zu überqueren und in Europa ein neues Leben ohne Armut und Hunger zu beginnen. Allerdings ist diese Überfahrt nicht nur sehr gefährlich (hunderte Afrikaner ertrinken jedes Jahr), sondern auch sehr teuer. Deshalb haben in den vergangenen Wochen viele Afrikaner versucht, Europa zu erreichen, ohne den Kontinent Afrika überhaupt zu verlassen.
Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Denn die beiden Hafenstädte Ceuta und Melilla (gesprochen ße-uta und Melija) sind so genannten „Exklaven“. Das bedeutet, dass sie zwar geografisch zu Marokko und Afrika, aber politisch zu Spanien und Europa gehören. Es ist in Afrika bekannt, dass jeder, der dieses Stückchen Land erreicht hat, in Europa ist und - jedenfalls bis vor kurzem - dort bleiben durfte.
Zehntausende Afrikaner aus verschiedenen Teilen des Kontinents haben sich schon aufgemacht. Einige Männer lassen Eltern, Frauen und Kinder zurück. Sie hoffen, ihre Familie besser ernähren zu können, wenn sie in einem reicheren europäischen Land Arbeit finden und einen Teil ihres Lohns nach Hause schicken. Oft gehen sie tausende Kilometer zu Fuß durch die Wüste und durch Gebirge, oder sie geben ihr letztes Geld unglaubwürdigen Menschenhändlern, die sie angeblich nach Europa bringen.
Gefährliche Flucht über Stacheldraht
In Wäldern um Melilla haben in den vergangenen Wochen tausende von ihnen auf einen günstigen Augenblick gewartet. Sie hatten selbstgebaute Leitern dabei und haben sich im Morgengrauen in Gruppen gesammelt. Um ihre Hände haben sie sich Stofffetzen gebunden und unter ihre Kleidung Pappe gestopft. So wollten sie sich vor dem hohen Stacheldrahtzaun und den Waffen der Grenzsoldaten schützen, die die Flüchtlinge in Marokko von Europa fern halten sollen.
Innerhalb von zwei Wochen haben nun auf einmal mehr als 4000 Afrikaner versucht, auf diese Weise Arbeitslosigkeit, Hunger, Krankheiten und Bürgerkriegen zu entkommen. Mit dem Mut der Verzweiflung stürmten sie die Grenze und kletterten die Zäune hoch. Nur etwa 400 Menschen, also jedem Zehnten von ihnen, ist der Sprung nach Europa tatsächlich geglückt. Die anderen sind entweder zurück in den Wald geflohen, wo sie auf die nächste Gelegenheit warten. Oder sie sind von marokkanischen Polizisten verhaftet worden. Und mindestens neun Menschen sind allein in Melilla in den rasiermesserscharfen Stacheln der Zäune gestorben.
Obwohl es nur wenige Afrikaner geschafft haben, in die spanischen Exklaven vorzudringen, ist in vielen Medien von einem „Flüchtlingsansturm“ oder „Flüchtlingsströmen“ die Rede, die in Europa „eindringen“. Viele dieser Menschen sind verletzt. Das Flüchtlingslager auf der europäischen Seite ist mittlerweile völlig überfüllt. Trotzdem sind die meisten Afrikaner dort sehr glücklich. Allerdings freuen sie sich wahrscheinlich zu früh.
Die Hoffnung Europa
Nach spanischem Gesetz dürfen sie dort nur etwas mehr als einen Monat festgehalten werden. Dann holte man sie bisher nach Spanien und ließ sie meistens einfach ohne Arbeitsgenehmigung gehen. Manche erledigen schwarz (ohne Genehmigung) irgendwelche Arbeiten, andere machen dubiose Geschäfte, manche sind nach Frankreich weiter gezogen oder sogar bis nach Deutschland. In Spanien, schätzen Experten, könnten im nächsten Jahr schon eine Million afrikanische Flüchtlinge ohne gültige Papiere leben.
Spanien konnte sie bislang nicht einfach wieder in deren Heimatländer zurückschicken. Denn dazu wäre ein Vertrag (ein so genanntes Auslieferungsabkommen) zwischen Spanien und dem jeweiligen afrikanischen Land nötig gewesen. Doch in vielen Fällen existieren solche Verträge nicht. Auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass die Rückkehrer in ihrer Heimat schlecht behandelt werden, hat man sie bislang nicht abgeschoben. Viele Flüchtlinge verbrennen außerdem vorsorglich ihre Ausweise, um ihre Herkunft zu verschleiern.
Abgeschoben nach Marokko
Spanien wusste also zunächst nicht, was es mit den Flüchtlingen anfangen sollte. Um zu verhindern, dass es die Afrikaner überhaupt über die Grenzen schaffen, hat die spanische Regierung zunächst Soldaten nach Marokko geschickt, die zusätzlich auf der anderen Seite des Grenzzauns patrouillieren sollen. Außerdem versprach der spanische Premierminister Zapatero den Politikern in Marokko mehr Entwicklungshilfe-Gelder, wenn sie die Grenzanlagen verstärken.
Der wichtigste Punkt ist jedoch: Marokko soll in Zukunft von Spanien abgeschobene Flüchtlinge aus allen Ländern Afrikas aufnehmen. Auf diese Weise muss Spanien sich keine Gedanken mehr darüber machen, was mit den Menschen nach ihrer Ausweisung geschieht. In der Vergangenheit hat Marokko dies stets abgelehnt. Spanien sei sechsmal so reich und solle sich deshalb selber um die Flüchtlinge kümmern. Doch wegen den versprochenen Entwicklungshilfe-Millionen hat Marokko seine Meinung nun geändert.
Für die afrikanischen Flüchtlinge bedeutet dies: Selbst wenn sie es über die Grenze nach Spanien geschafft haben, sind sie nun nicht mehr in Sicherheit. Sie haben kaum mehr eine Chance, in Europa bleiben zu können. Flüchtlinge in Ceuta und Melilla werden künftig in Bussen zurück nach Marokko gefahren. Und das ist nicht nur ärgerlich für die Afrikaner, sondern scheinbar auch sehr gefährlich.
In der Wüste ausgesetzt
Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" macht darauf aufmerksam, dass Marokko hunderte zurückgeschickte und bei den Exklaven festgenommene Flüchtlinge mit Bussen in die Wüste Sahara fährt und dort einfach aussetzt. Die Hilfsorganisation „SOS Rassismus“ berichtet, die Einwanderer seien mit Handschellen gefesselt worden, viele seien verletzt und selbst schwangere Frauen und Kinder seinen verschleppt worden.
In der Sahara drohen die Afrikaner zu verhungern, da sie weder Wasser, Nahrung noch medizinische Hilfe bekämen. Hinter dieser brutalen Maßnahme stehe die Hoffnung, dass die Flüchtlinge nicht zu Fuß nach Nordmarokko zurückkehren können, um noch einmal einen Fluchtversuch über die Grenze zu unternehmen. Die marokkanische Regierung bestreitet die Vorwürfe. Nachdem jedoch viele Länder gegen dieses Vorgehen protestiert haben, hat Marokko jetzt viele der Ausgesetzten wieder in der Wüste eingesammelt. Sie sollen nun mit Flugzeugen in ihre afrikanischen Heimatländer gebracht werden. Was dort mit ihnen passiert, ist allerdings nicht bekannt.
Menschenrechtsorganisationen wie „Amnesty International“ kritisieren das Vorgehen Spaniens scharf. In den Augen der Menschrechtler verletzte Spanien mit der Abschiebung der Flüchtlinge nach Marokko sogar die „Genfer Flüchtlings-Konvention“ – das wichtigste internationale Abkommen zum Schutz von Flüchtlingen. In den spanischen Städten Madrid und Sevilla protestierten hunderte Menschen auf Kundgebungen gegen die Abschiebungen.
Nicht die Flüchtlinge, sondern den Grund für die Flucht bekämpfen
Vertreter der Vereinten Nationen (UN) mahnen die europäischen Länder, die Situation der Flüchtlinge in Marokko sehr ernst zu nehmen. Eine Sprecherin sagte der Tageszeitung „Die Welt“: "Die Zahl der Not leidenden Menschen Afrikas, die alles daransetzen, nach Europa zu kommen, wird weiter steigen." Auch der deutsche Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) warnte vor einer „dramatischen Zunahme der Flüchtlingsströme“ nach Europa. Zusätzliche Grenzzäune könnten davor nicht schützen, sagte Schily. Volker Beck von den Grünen kritisiert hingegen, dass nur die Flüchtlinge bekämpft werden und nicht die Gründe für die Flucht.
Es müsse vor allem etwas gegen die Armut in Afrika getan werden. Damit tun sich aber alle Länder schwer. Die reichen Staaten zahlen viel weniger Entwicklungshilfe als versprochen. Außerdem hindern sie afrikanische Länder nach wie vor daran, ihre Produkte in Europa zu verkaufen. Und es werden noch immer korrupte afrikanische Staats-Chefs geduldet – was die Entwicklung dieser Länder sicher nicht fördert. So lange das alles so bleibt, werden weiter Menschen aus Afrika Wege nach Europa finden, egal wie hoch die Zäune oder wie schrottreif die Boote auch sein mögen.
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