von Felicia Chacón Díaz und Björn Pawlak - aktualisiert - 20.11.2013
Kennst du die Abenteuer des in ein Wichtelmännchen verwandelten Jungen Nils Holgersson, der auf dem Rücken des zahmen Gänserichs Martin und gemeinsam mit einer Schar von Wildgänsen durch die Landschaften Schwedens zieht? Erfunden hat diese Figur die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf: Sie entstammt ihrem Roman "Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen".
Selma Lagerlöf war die erste Frau überhaupt, die für ihr Werk mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde - und zwar im Jahr 1909. Ihre Bücher wurden in über 40 verschiedene Sprachen übersetzt und werden auch heute von alten und jungen Lesern auf der ganzen Welt geschätzt.
Geboren wurde die Autorin am 20. November 1858 in der südschwedischen Gemeinde Sunne in der Region Värmland. Gemeinsam mit ihren Eltern Erik Gustaf Lagerlöf und Loise Lagerlöf (geborene Wallroth) verbrachte sie zusammen mit vier Geschwistern ihre Kindheit auf dem "Mårbacka" genannten elterlichen Gutshof. In diesem abgelegenen Teil Schwedens lebten nur wenige Menschen. Dichte Wälder mit wilden Tieren wie Bären und Wölfen bestimmten hier die Landschaft.
Weil die kleine Selma mit einem angeborenen Hüftleiden zur Welt kam, konnte sie nicht wie ihre Geschwister draußen herumtollen. Stattdessen verbrachte sie viel Zeit im Haus, wo sie ihrer alten Großmutter dabei zuhören durfte, wie diese ihr von den uralten schwedischen Mythen berichtete. Schon in jungen Jahren kannte Selma die Märchen der Brüder Grimm halb auswendig, genauso die Märchen des dänischen Dichters Hans Christian Andersen. Zu ihren ersten Büchern gehörte eine Ausgabe der Bibel, aber im Haus der Eltern fanden sich noch viele weitere Bücher.
So verbrachte Selma also viel Zeit mit Lesen, begann aber auch schon früh damit, eigene Texte zu schreiben. Bereits im Alter von zwölf Jahren verfasste sie kurze Gedichte. Ihre große Leidenschaft für die Literatur sollte sie ihr ganzes Leben bewahren. Mit über 14 Jahren verließ sie ihre Heimat zeitweise, um in Stockholm eine weiterführende Schule zu besuchen. Zuvor wurde sie von Privatlehrern in Mårbacka unterrichtet.
Eine kurze Karriere als Lehrerin
Nach ihrem Schulabschluss in Stockholm beschloss die junge Selma, dass sie Lehrerin werden möchte. Sie wollte sich mit einem Leben als Hausfrau und Tätigkeiten wie Kochen und Nähen nicht zufrieden geben, deshalb verspürte sie den Wunsch nach einer Berufsausbildung. In der Bildung wollte sie vor allem deshalb aktiv werden, weil sie in ihr die Möglichkeit für gesellschaftliche Veränderungen und Fortschritt sah. Besonders in Bezug auf die Rolle der Frau waren ihre Ansichten der Zeit voraus.
Von 1882 bis 1885 besuchte Selma Lagerlöf das Königliche Höhere Lehrerinnenseminar, wo sie sich zur Volksschullehrerin ausbilden ließ. Von ihrem älteren Bruder erhielt sie in dieser Zeit Geld zur Unterstützung. Die finanzielle Situation der Familie Lagerlöf war unterdessen äußerst schlecht, so dass die Familie sich Geld leihen musste. 1890 musste Mårbacka wegen hoher Schulden verkauft werden. Die Angst vor dem Verlust von Haus und Hof verarbeitete die Autorin später in mehreren ihrer Werke. Nach dem Abschluss ihres Studiums ging Selma Lagerlöf als Volksschullehrerin nach Landskrona, wo sie die nächsten zehn Jahre verbrachte. Als Lehrerin war sie sehr beliebt, weil sie das Talent besaß, sehr lebendig zu erzählen. So begeisterte sie auch ihre Schüler für die Literatur.
Das Leben als Schriftstellerin
Ihr schriftstellerisches Talent lebte Selma Lagerlöf dadurch aus, dass sie für die örtliche Zeitung regelmäßig Artikel verfasste. Durch ihre Zeitungstexte wurden Anhängerinnen des damals erstarkenden Feminismus auf Lagerlöf aufmerksam und stellten Kontakt zu ihr her. So lernte sie eine der bedeutendsten zeitgenössischen Feministinnen Schwedens kennen, nämlich Sophie Aldersparre. Die beiden Frauen freundeten sich miteinander an und Aldersparre ermutigte Selma Lagerlöf dazu, ganze Bücher zu verfassen und zu veröffentlichen.
Das literarische Journal "Idun" hatte 500 schwedische Kronen für diejenige Person als Prämie festgelegt, die den besten Roman einreichen würde. Selma Lagerlöf arbeitete gerade an ihrem ersten Roman, der den Titel "Gösta Berling" trug. Sie verarbeitete in diesem Buch die in ihrer Kindheit aufgeschnappten Geschichten von Menschen in ihrer Heimat. Mit diesem Werk - oder besser gesagt den ersten bereits fertig gestellten Kapiteln - gelang es ihr tatsächlich, den Literaturwettbewerbs zu gewinnen. Die 500 Kronen gehörten damit ihr. Außerdem ermöglichte man ihr zur Belohnung, den kompletten ersten Roman zu veröffentlichen.
Das Buch "Gösta Berling" verkaufte sich allerdings anfangs eher schlecht, so dass sie kaum Geld damit verdienen konnte. Es dauerte einige Zeit, bis die Nachfrage größer wurde. Hilfreich war dabei vor allem das Lob von dem damals bekannten Literaturkritiker Georg Brandes. Brandes wirkte vor allem in Dänemark, eine positive Buchbesprechung erschien im dänischen Journal "Politiken". Somit wurde Lagerlöf in Schwedens Nachbarland Dänemark zunächst stärker wahrgenommen als in ihrer Heimat.
Durch den sich einstellenden Erfolg ermutigt, beschloss Selma Lagerlöf, ihre Karriere als Lehrerin zu beenden. Sie wollte fortan mehr Zeit zum Schreiben zu haben. "Gösta Berling" wurde später übrigens auch ein Kinoerfolg - im Jahr 1924 wurde die Filmversion mit der damaligen Starschauspielerin Greta Garbo in der Hauptrolle uraufgeführt.
Endgültiger Durchbruch der Autorin
Mit dem Erzählband "Unsichtbare Bande", herausgegeben im Jahr 1894, gelang Selma Lagerlöf dann auch in ihrem Heimatland Schweden der schriftstellerische Durchbruch. Im gleichen Jahr begann ihre sehr persönliche Freundschaft mit der Autorin Sophie Elkan. Die beiden Frauen verbrachten viel Zeit miteinander und gingen gemeinsam auf Reisen.
Die Reiseziele der beiden Freundinnen waren unter anderem Italien und Jerusalem, beide Orte waren dann Ausgangspunkt für die beiden folgenden Romane. Lagerlöfs finanzielle Situation hatte sich sehr entspannt, nachdem man ihr seitens der Schwedischen Akademie eine lebenslange Pension gewährt hatte, damit sie sich ganz dem Schreiben widmen konnte.
Zunächst erschien im Jahr 1897 "Die Wunder des Antichrist", die Handlung spielt auf der italienischen Insel Sizilien. Ein wichtiges Thema des Romans ist der damals stark aufkommende Sozialismus, der von der Autorin als Nachahmung des Katholizismus gedeutet wird - so ist der "Antichrist" im Buch ein Sinnbild für den Sozialismus. Ein ganz ähnliches Motiv gibt es auch im Werk des französischen Philosophen Albert Camus.
Dann folgten in den Jahren 1901 und 1902 die beiden Romanbände "Jerusalem". Hier erzählt Selma Lagerlöf die Geschichte einer tief religiösen schwedischen Bauernfamilie, die ihre Farm und ihr Land verkaufen, um sich auf Pilgerschaft nach Jerusalem zu begeben. Einer der Familienmitglieder sorgt sich sehr um die Zukunft seiner Angehörigen und sucht nach einer Möglichkeit, den alten Besitz zurückzukaufen. Er heiratet deshalb eine reiche Dame und trennt sich dafür von der mittellosen Frau, die er liebt. Er kauft das Familiengut zurück, verliert aber die Freude am Leben. Die Geschichte spielt damit auch auf das Schicksal der Familie Lagerlöf an, welche ja ebenfalls den Gutshof Mårbacka verkaufen musste.
In beiden zuletzt genannten Romanen stehen moralische Fragestellungen im Mittelpunkt - es geht um die Frage, wie man das Leben "richtig" oder "falsch" führt, und um den Unterschied zwischen "Gut" und "Böse". Die Thematik fesselte die schwedischen Leser und machte Selma Lagerlöf im ganzen Land zu einer berühmten Frau.
Die Geschichte von Nils Holgersson
Bevor die Autorin an ihrem berühmtesten Werk zu arbeiten begann, veröffentlichte sie im Jahr 1904 die Erzählung "Herrn Arnes Schatz", die von einem grausamen Raubmord handelt. "Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen" entstand kurz darauf in den Jahren 1906 und 1907. Das Buch war eine Auftragsarbeit für das Bildungsministerium der Schwedischen Regierung. Es sollte die Geschichte und das Alltagsleben des Landes thematisieren und der Jugend die "Liebe für die schwedischen Nation" nahe bringen.
Selma Lagerlöf erzählt hier die Geschichte von der Verwandlung des 14-jährigen Nils Holgersson, einem egoistischen, faulen und etwas bösartigen Jungen. Mit seinen Eltern lebt Nils auf einem kleinen Bauernhof im Süden Schwedens. Er spielt nicht nur seinen Eltern Streiche, er ärgert auch die auf dem Hof lebenden Tiere. Auf dem Bauernhof gibt es einen kleinen und gutartigen Hausgeist, ein "Wichtelmännchen". Der Wichtelmann ist bekümmert über das Verhalten von Nils, zur Strafe verwandelt er ihn in einen Däumling. Nils ist jetzt nicht größer als die Innenfläche einer Hand.
Der winzige Nils verlässt den elterlichen Bauernhof. Er fliegt auf dem Rücken der weißen Hausgans Martin mit den Wildgänsen davon. Die Schar der Wildgänse mit ihrer alten und weisen Anführerin Akka von Kebnekaise ist auf dem Weg nach Norden. Dort, im fernen Lappland, suchen die Zugvögel ihre alljährlichen Brutgebiete. Nils macht auf dieser Reise viele Erfahrungen, die seine Persönlichkeit reifen lassen, und wird ein besserer Mensch.
Er geht nun liebevoll mit seinen Gefährten um und hilft den Wildgänsen durch manche Gefahr, zum Beispiel indem er sie vor Feinden wie dem listigen Fuchs Smirre beschützt. Lagerlöf nutzt die Reise der Wildgänse auch, um verschiedene Orte und Landschaften der schwedischen Heimat zu beschreiben. Es geht nicht zuletzt um die Liebe zur Natur. Nils vermisst seine Eltern schließlich immer mehr. Er empfindet Sehnsucht, wieder ein normaler Mensch zu werden. Das Ende dieses Buches wird aber nicht verraten, denn vielleicht kennst du es ja noch nicht und möchtest es selbst lesen.
Nobelpreis für Literatur
Im Jahr 1909 wurde Selma Lagerlöf als erster Frau überhaupt der Literaturnobelpreis verliehen. 1914 wurde sie Mitglied der Schwedischen Akademie. Noch immer schrieb sie fleißig an neuen Büchern. So erschien etwa im Jahr 1912 "Der Fuhrmann des Todes". Dieser Roman greift eine alte Legende auf: Die Person, die in der Silvesternacht vor Anbruch des neuen Jahres als letzte stirbt, muss ein Jahr lang als Fuhrmann dem Tod dienen und die Seelen der Sterbenden von ihren Körpern erlösen.
Erzählt wird die Geschichte eines verhassten, dem Alkohol verfallenen Mannes, der erst im Angesicht des Todes Reue verspürt und sich ändern will. Dadurch rettet er seine Frau vor dem Selbstmord - denn der Tod erlaubt seiner Seele, noch einmal ins Leben zurückzukehren. Es ist nicht klar, ob es sich nur um einen Traum des Mannes handelt oder ob er wirklich von den Toten aufersteht. Der Roman wurde im Jahr 1921 meisterhaft von dem berühmten schwedischen Regisseur Victor Sjöström verfilmt.
Ein weiteres bedeutendes Buch war "Der Kaiser von Portugallien", das 1914 erschien. Hier erzählt Selma Lagerlöf von der Liebe eines Vaters zu seiner Tochter, welche zu einer Prostituierten geworden ist und ihren Körper an Männer verkauft. Der Vater verdrängt die für ihn unerträgliche Wahrheit durch eine Fantasiewelt, in der die Tochter eine Kaiserin und er selbst ein Kaiser ist.
Zwischen 1925 und 1929 entstand dann eine "Trilogie" - also ein Roman in drei Teilen: "Der Ring des Generals" (Teil 1), "Charlotte Löwensköld" (Teil 2) und "Anna, das Mädchen aus Dalarne" (Teil 3). Dieses Werk erzählt die verflochtene Geschichte einer Familie. Gegen Ende ihres Lebens verfasste Selma Lagerlöf die Biographie ihrer eigenen Lebensgeschichte, ebenfalls in drei Teilen: "Mårbacka" (bereits 1922 erschienen), "Memoiren eines Kindes" (1930) und "Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf" (1932).
Einsatz für soziale Gerechtigkeit
Selma Lagerlöf war nicht nur eine bedeutende Schriftstellerin, sondern auch eine engagierte Vorkämpferin für soziale Gerechtigkeit. Sie machte sich für die Frauenbewegung in Schweden stark. Als erfolgreiche Autorin und alleinstehende Frau war sie ein Vorbild für viele nach mehr Unabhängigkeit strebende Frauen. Durch die Verleihung des Nobelpreises für Literatur wurde man auch international auf die kritische Stimme Selma Lagerlöfs aufmerksam.
In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg half sie deutschen Intellektuellen, welche von den Nationalsozialisten aufgrund ihrer Gesinnung oder wegen ihrer jüdischen Herkunft bedroht wurden. Die deutsche Dichterin Nelly Sachs erhielt in Schweden Asyl, weil Lagerlöf sich bei der schwedischen Regierung sehr für sie einsetzte.
Als die Sowjetunion im Winter 1939 Finnland angriff, stellte sich Selma Lagerlöf auf die Seite der finnischen Regierung und erregte damit Aufsehen in der Öffentlichkeit. Sie spendete ihre goldene Nobelpreis-Medaille, die für den Widerstand eingeschmolzen werden sollte. Die finnische Regierung zeigte sich sehr dankbar, gab ihr die Medaille später allerdings wieder zurück.
Selma starb in Mårbacka, am gleichen Ort, an dem sie auch geboren wurde. Sie hatte den Gutshof ihrer Eltern nämlich bereits im Jahr 1910 zurückgekauft und bezahlte den Rückkauf mit der Prämie für den Literaturnobelpreis. Am 16. März 1940 erlag sie im Alter von 81 Jahren den Folgen eines kurz zuvor erlittenen Schlaganfalls. Neben ihrer letzten Ruhestätte in Östra Ämtervik befindet sich heute ein öffentliches Museum.
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