von Christoph Hühnergarth - 30.06.2010
Mit den Achtelfinal-Begegnungen hat bei der Fußball-WM in Südafrika die heiße Phase der Entscheidungen begonnen. Die Hälfte aller Mannschaften ist in der Vorrunde ausgeschieden, während es für die andere Hälfte seit vergangenen Samstag heißt: Nun geht es um alles oder nichts! Unentschieden gibt es nicht mehr: Der Gewinner kommt weiter, der Verlierer fährt nach Hause. Vorbei ist die Vorrunde, wo noch Kräfte geschont wurden. Ab dem Achtelfinale können aus Fußballspielen große Helden hervorgehen und legendäre Momente für immer in Erinnerung bleiben. Gleichzeitig können auf des Gegners Seite WM-Träume in Sekundenschnelle zerplatzen.
Das beste Beispiel für die unglaubliche Dramatik eines WM-Entscheidungsspiels konnten die Fußballfans weltweit im Achtelfinalspiel zwischen Deutschland und England verfolgen. Beim Spielstand von 2:1 für Deutschland schoss Englands Mittelfeld-Star Frank Lampard den Ball an die Unterkante der Latte des deutschen Tores - von dort aus prallte der Ball etwa einen halben Meter hinter der Torlinie auf. Deutschlands Torwart Manuel Neuer war schon geschlagen und Frank Lampard riss bereits jubelnd die Arme in den Himmel über dem Free State-Stadion in Bloemfontein. Doch Schiedsrichter Jorge Larrionda aus Uruguay erkannte das Tor nicht an! Weder er noch sein Assistent an der Seitenlinie hatten gesehen, dass der Ball deutlich hinter der Torlinie aufkam, bevor ihn Manuel Neuer wieder unter Kontrolle brachte. Eine glasklare Fehlentscheidung, die die Diskussion um die Verwendung technischer Hilfsmittel für Schiedsrichter weiter anheizen wird.
Frank Lampards Jubel wurde zu blitzartiger Fassungslosigkeit und die ganze Fußballwelt erinnerte sich an das so genannte "Wembley-Tor" von Geoff Hurst vor 44 Jahren: Damals, im Finale der WM 1966, ebenfalls zwischen Deutschland und England, geschah fast die gleiche außergewöhnliche Szene schon einmal - nur dass damals die Deutschen die Betrogenen waren! Der Schuss des Engländer Geoff Hurst war ebenfalls von der Unterkante der Latte abgeprallt, doch dann auf der Torlinie - und eben nicht hinter der Linie - aufgekommen. Trotzdem entschied Schiedsrichter Gottfried Dienst auf Tor. Deutschland verlor damals das Finale mit 2:4. 44 Jahre später aber hat sich Fußball-Geschichte mit Frank Lampards "Wembley-Tor" in Bloemfontein fast wiederholt und selbst berichtigt: Denn diesmal gewann Deutschland das Spiel und schoss England letztendlich mit 4:1 aus der WM 2010. Englands Traum vom WM-Titel ist zerplatzt.
Deutschland - England 4:1
Frank Lampards nicht anerkanntes Tor wäre der 2:2-Ausgleich für England kurz vor der Halbzeitpause gewesen. In dieser Phase der Begegnung kämpfte sich das Team der "Three Lions" wieder ins Spiel zurück, nachdem Deutschland die Anfangsminuten klar beherrscht hatte. Einen langen Abstoß von Torhüter Manuel Neuer hatte Stürmer Miroslav Klose geschickt zum verdienten 1:0 verwerten können. Nach sehenswertem Passspiel über Klose und Thomas Müller hatte Lukas Podolski sogar aus spitzem Winkel auf 2:0 erhöht. Erst dann hielt England dagegen und erzielte etwas überraschend das 1:2 durch einen Kopfball von Verteidiger Matthew Upson. Da Frank Lampards Tor kurz vor dem Halbzeitpfiff nicht zählte, konnte die Elf von Bundestrainer Joachim Löw die knappe Führung in die Halbzeit retten.
Auch in der zweiten Spielhälfte drängte England zunächst auf den Ausgleichstreffer, doch die deutsche Abwehrreihe um den sehr starken Verteidiger Arne Friedrich ließ kaum Torchancen zu. Deutschland nutzte Englands Druck geschickt selbst, um blitzschnell Konter einzuleiten. In der 67. Minute konterte die junge deutsche Mannschaft über Bastian Schweinsteiger, der mit viel Übersicht auf seinen Vereinskollegen vom FC Bayern München, Thomas Müller, ablegte. Dieser überwand Torwart David James und erhöhte auf 3:1. Nur wenige Minuten später erneut ein präziser Konter: Mesut Özil legte erneut auf Thomas Müller quer, der zum entscheidenden 4:1 vollstreckte. Mit seinem zweiten und dritten WM-Tor sowie seiner Torvorlage auf Miroslav Klose ist der erst 20-jährige Thomas Müller nun sogar zum bislang besten "Scorer" (Tore und Torvorlagen zusammengerechnet) der WM aufgestiegen.
Danach war der Widerstand der Engländer gebrochen. Das im Durchschnitt nur rund 24 Jahre alte deutsche Team überbrückte die letzten zwanzig Spielminuten mit sicherem und klugem Passspiel und ließ der erfahrenen englischen Mannschaft keine Chance mehr. Mit einer herausragenden Leistung (und natürlich auch ein wenig Glück wegen Frank Lampards nicht anerkanntem Tor) stößt Deutschland ins Viertelfinale vor - dort wartet nun Argentinien.
Argentinien - Mexiko 3:1
Mit einem hart erkämpften 3:1-Erfolg über Mexiko sicherten sich auch die hoch gehandelten Argentinier den Einzug in die Runde der letzten Acht. Allerdings standen auch in dieser Partie der Schiedsrichter und sein Assistent mit einer krassen Fehlentscheidung unfreiwillig im Mittelpunkt: In der 26. Minute entschied der italienische Unparteiische Roberto Rosetti auf Tor durch den Argentinier Carlos Tevez, obwohl dieser bei seinem Kopfball deutlich im Abseits stand. Die strittige Szene wurde versehentlich auch noch auf der Videoleinwand im Stadion wiederholt, so dass sämtliche Spieler und Zuschauer Rosettis Fehlentscheidung bemerkten.
Der Widerstand Mexikos, das bis dahin den Argentiniern sogar spielerisch überlegen war, war danach gebrochen. Nur wenige Minuten später erhöhte Top-Stürmer Carlos Higuain nach einem Fehler des Mexikaners Ricardo Osorio gar auf 2:0 - sein viertes Tor dieser WM. Damit führt der Star von Real Madrid die Torschützenliste zusammen mit dem Spanier David Villa und dem Slowaken Robert Vittek an. Erneut Carlos Tevez erzielte mit einem knallharten Fernschuss das 3:0 nach der Halbzeit. Der Mexikaner Javier Hernandez konnte nur noch auf 1:3 verkürzen.
Uruguay - Südkorea 2:1
Erstmals seit 1970 steht Uruguay wieder in einem WM-Viertelfinale. In einem engen Spiel zweier gleichwertiger Teams machte Luis Suarez letztendlich den Unterschied aus: Zunächst bracht der Stürmer von Ajax Amsterdam seine Mannschaft in Führung und sorgte dann noch für den 2:1-Siegtreffer, nachdem die Südkoreaner ausgleichen konnten. Luis Suarez jubelte vor Begeisterung: "Das ist unglaublich. Das träumt man als Kind und stellt sich vor: Ich bin bei einer WM und schieße ein Tor. Ich lebe meinen Traum." Besonders Suarez‘ zweiter Treffer war sehenswert: Mit der Innenseite seines rechten Fußes verlieh der 23-jährige Stürmer dem Ball extremen Drall und schlenzte ihn ins rechte Toreck. Südkoreas Torhüter Sung-Ryong Jung war chancenlos. Die Uruguayer treffen im Viertelfinale nun auf Ghana.
USA - Ghana 1:2 nach Verlängerung
Das Spiel zwischen den Amerikanern und Ghana, der letzten verbleibenden afrikanischen Mannschaft, war die erste Partie dieser WM, die nach den regulären 90 Spielminuten noch nicht entschieden war. Die Teams mussten eine Verlängerung von zweimal 15 Minuten durchstehen, in der jedoch Ghanas Asamoah Gyan bereits in der 93. Minute für die Entscheidung sorgte. Nach 90 Minuten hatte es 1:1 gestanden. Mit einem "Blitzstart" durch Kevin Prince Boateng war Ghana bereits nach fünf Minuten in Führung gegangen. Durch Landon Donovans Foulelfmeter in der 62. Minute glichen die Amerikaner allerdings schon zum dritten Mal in dieser WM einen Rückstand aus. In der Verlängerung jedoch waren die Amerikaner zu unkonzentriert und gerieten erneut in Rückstand. Held des Abends war Ghanas Torwart Richard Kingson, der mehrere gute Torchancen durch spektakuläre Paraden zunichte machte.
Niederlande - Slowakei 2:1
Mit einer souveränen Vorstellung rückte das Team der Niederlande ins Viertelfinale vor. Nach dem Sensationssieg gegen Weltmeister Italien in der Vorrunde fehlten den WM-Neulingen aus der Slowakei die Mittel, auch gegen die spielstarken Niederländer zu bestehen. Trainer Bert van Marwijk setzte in der Startelf auf den wieder genesenen Weltklasse-Stürmer Arjen Robben vom FC Bayern München. Der 26-Jährige stand auch gleich im Mittelpunkt als er, typisch für ihn, mit seinem starken linken Fuß in die Spielfeldmitte zog und mit einem satten Schuss vollendete - das hoch verdiente 1:0 für die Niederländer. Auch in der restlichen Partie blieb "Oranje" (so werden die Niederländer wegen ihrer orangenen Spielkleidung genannt) überlege. Folgerichtig sorgte Wesley Sneijder für das 2:0 kurz vor Spielende. Robert Vittek konnte überraschend noch auf 1:2 verkürzen, doch Sekunden später war das Spiel beendet. Im Viertelfinale kommt es nun zum Top-Spiel zwischen den Niederlanden und Brasilien.
Brasilien - Chile 3:0
Ohne Chancen gegen den hohen Favoriten müssen die hoch gelobten Chilenen die Heimreise antreten. Brasiliens Trainer Carlos Dunga hat die Spielweise der Brasilianer geändert: Seine Stars spielen keinen verspielten "Zauberfußball" mehr mit zahlreichen Tricks, denn taktische Disziplin und Sicherheit in der Abwehr sind ihm wichtig. Dunga, der lange Zeit in Europa, unter anderem beim VfB Stuttgart, gespielt hat, hat viel Ordnung ins Spiel der Brasilianer gebracht. Erfolgreich sind die Kicker aus dem Land des Samba nun umso mehr: Juan (34.), Luis Fabiano (38.) und Robinho (59. Minute) machten den Sieg des Favoriten perfekt.
Paraguay - Japan 0:0 nach Verlängerung, 5:3 im Elfmeterschießen
Paraguay und Japan bestritten das bisher schwächste Achtelfinale dieser WM. Nach torlosen 120 Minuten musste zum ersten Mal der Sieger im Elfmeterschießen ermittelt werden. Untröstlich war der Japaner Yuichi Komano nach dem entscheidenden 5:3 der Paraguayer, denn Komanos Elfmeter war kurz zuvor an der Oberkante der Torlatte abgeprallt. Sein Fehlschuss bedeutete das Aus für die Japaner, die genau wie die Paraguayer noch nie zuvor in ein WM-Viertelfinale eingezogen sind.
Spanien - Portugal 1:0
Im Duell der Nachbarländer Spanien und Portugal genügte den Spaniern eine durchschnittliche Leistung, um ins Viertelfinale einzuziehen. Einzig David Villa, der Schütze des einzigen Tores (auch dieses Tor war eigentlich Abseits), stach heraus. Sein Treffer zum 1:0 in der 63. Minute war allerdings abseits-verdächtig. Die Portugiesen um Cristiano Ronaldo, dem teuersten Spieler der Fußball-Geschichte, boten hingegen eine schwache Leistung. Mit verzweifelten, oft überhasteten Torschüssen versuchte Ronaldo im Alleingang, die Niederlage abzuwenden. Spanien trifft nun im Viertelfinale auf Paraguay.
Das Achtelfinale im Überblick
Uruguay - Südkorea 2:1 (in Port Elizabeth)
USA - Ghana 1:2 n.V. (in Rustenburg)
Deutschland - England 4:1 (in Bloemfontein)
Argentinien - Mexiko 3:1 (in Johannesburg)
Niederlande - Slowakei 2:1 (in Durban)
Brasilien - Chile 3:0 (in Johannesburg)
Paraguay - Japan 0:0, 5:3 i.E. (in Pretoria)
Spanien - Portugal 1:0 (in Kapstadt)
Alle Viertelfinalspiele im Überblick
Fr., 02.07., 16.00 Uhr: Niederlande - Brasilien
Fr., 02.07., 20.30 Uhr: Uruguay - Ghana
Sa., 03.07., 16.00 Uhr: Argentinien - Deutschland
Sa., 03.07., 20.30 Uhr: Paraguay - Spanien
Torjäger nach dem Achtelfinale
David Villa (Spanien): 4 Tore
Gonzalo Higuain (Argentinien): 4 Tore
Robert Vittek (Slowakei, bereits ausgeschieden): 4 Tore
Thomas Müller (Deutschland): 3 Tore
Landon Donovan (USA, bereits ausgeschieden): 3 Tore
Asamoah Gyan (Ghana): 3 Tore
Luis Fabiano (Brasilien): 3 Tore
Luis Suarez (Uruguay): 3 Tore
16 Spieler mit 2 Toren
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