Mitternachtsimbiss
Tina schreckte mit schweißnassem Gesicht, zitternden Knien und knurrendem Magen aus dem Schlaf. Sie hatte eine langwierige Flucht vor hundert Karotten-Menschen, angeführt von fiesen Salat-Zombies, hinter sich und fühlte sich ausgesprochen leer. Das ging jetzt schon über zwei Wochen so. Bloß weil ihre Mutter meinte, sie habe ein, zwei, vielleicht fünf Kilo zu viel auf den Rippen, musste die gesamte Familie an ihrer Hungerkur teilnehmen. Tina und ihr Bruder Felix hatten alles versucht - nichts hatte geholfen. Die Hausherrin blieb stur wie ein Esel.
Tina drehte sich auf die Seite und versuchte, nicht an das riesige Stück Pfannkuchentorte zu denken, das ihre Mutter in den hintersten Teil der Speisekammer verbannt hatte und das nur darauf wartete, von ihr verspeist zu werden. Ich könnte ja einfach nur ins Bad gehen und etwas Leitungswasser schlürfen, überlegte sie. Sie ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Der Vollmond wurde von ein paar kleinen Wolken leicht verdunkelt, doch im Flur sollte es hell genug für einen Mitternachtsspaziergang sein. Entschlossen schlug Tina die Bettdecke zurück und richtete sich auf. Nun musste sie nur noch das Chaos auf ihrem Zimmerboden bewältigen; hunderte kleine und größere Schatten lagen im ganzen Raum verstreut, jeder davon konnten ihre Hausschuhe sein, aber genauso gut ein Furzkissen oder Federmäppchen. Schritt für Schritt kämpfte sie sich durch die Dunkelheit voran in Richtung Tür. Ein Gegenstand, an dem sie vorbeikam, sah flauschig aus und ähnelte Stark ihren Hauspantoffeln.
Vorsichtig stupste sie ihn mit der Zehe an - es war warm und - stieß einen scheußlichen Laut aus. Tina musste sich die Hand vor den Mund pressen, um nicht laut los zu schreien, denn das Knäuel hatte auf einmal giftgrüne Augen und ein Maul mit vielen scharfen Zähnen, aus dem ein wütendes Fauchen drang. Zwei Sekunden später war es unter dem Bett verschwunden. Tina atmete auf. Nur ihr Kater Pablo würde unter ihrer miefigen Matratze Platz nehmen und weiterschlafen wollen. "Mensch Pablo, erschreck mich nie wieder so, hörst du?", zischte sie, als ihr Herz nicht mehr spechtartig gegen den Brustkorb schlug. Sie atmete noch einmal kräftig durch. Dann trat sie todesmutig den Gang ins Bad an.
Im Flur war es stockfinster. Der Mond hatte sich anscheinend hinter ein paar dicken Regenwolken verzogen. Es war so still, dass sich Tinas Ohren bei dem leisesten Geräusch unangenehm nach hinten zogen. Einmal glaubte sie sogar ein Huschen hinter sich gespürt zu haben, bei dem sich jedes einzelne Haar an ihr aufstellte. Sie schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen. Es war nur Pablo. Es war nur Pablo. Pablo, meine Katze, redete sie sich Mut zu und tappte weiter. Als sie die Hand an die Türklinke legte, ließ sie ein tiefes, wütendes Knurren zusammenschrecken und erstarren. Da war es wieder! Doch dieses Mal klang es eher traurig oder noch eher - hungrig. Ich fasse es nicht, schoss es Tina durch den Kopf, jetzt höre ich sogar schon meinen Magen Gefühle beschreiben! Füttere mich, füttere mich! Jetzt reicht's, ich hab mir diese Torte verdient! Kurz entschlossen drehte sie sich um und ging die Treppe zum Erdgeschoss und somit zur Speisekammer hinunter. Sie achtete weder auf Geräusche noch auf sonstige Wahrnehmungen - ihre Sinne waren voll und ganz auf das Ziel gerichtet.
So leise wie möglich öffnete sie die hinterste Tür des Stockwerks. Das kleine Zimmer wurde nur spärlich durch ein verdrecktes Fenster beleuchtet und Tina tastete nach dem Lichtschalter. Doch auf einmal hielt sie inne: Aus einem versteckten Winkel drang ein seltsames Geräusch, eine Art Schmatzen, bei dem unglaublich viel Speichel verloren geht. Tina reckte den Hals und sah etwas Pelziges an der Tortenplatte sitzen. Das darf nicht wahr sein! Dachte sie empört und verblüfft zugleich, Pablo frisst mir tatsächlich die Torte weg! Doch wie ist er hier hinein gekommen? Tina knipste das Licht an, um den Übeltäter auf frischer Tat ertappen zu können, doch statt dem kleinen schwarzen Kater saß dort - ein gräuliches, verklebtes Etwas, das sich laut schlabbernd über das Essen hermachte. Als das Licht anging, sprang es herum und ein Tier mit übergroßer Schnauze, an der Sahne und getrocknetes Blut hingen, riesigen Klauen und grünen, panisch wirkenden Schlitzaugen kam zum Vorschein - Tina hatte soeben Bekanntschaft mit einem Baby-Werwolf gemacht.
Noch bevor ihr das bewusst wurde, kam das Kind auf sie zugeschossen und vergrub seine langen scharfen Zähne in ihren Arm. Sie wollte schreien, doch der Schmerz und der furchtbare Gestank des Wolfes verschlugen ihr den Atem. Rücklings stolperte sie aus der Tür, der Wolf baumelte an ihrem Ärmel und schien fest entschlossen, ihr den Arm abzubeißen. Verzweifelt schüttelte sie den Arm, schleuderte ihn hin und her, bis das Tier etwas lockerer ließ und sie ihn durch einen festen Schlag auf den Kopf loswurde. Jaulend lief der Werwolf in die Kammer und verschwand. Mit letzter Kraft stieß Tina die Tür zu, dann sank sie zitternd davor zusammen. Der Arm brannte höllisch und sie hatte das Gefühl, er könnte jeden Moment abfallen. Sie versuchte ruhiger zu werden, doch es wollte ihr nicht recht gelingen. Ein Werwolfbaby hat mir die Pfannkuchentorte weggefressen und sich jetzt in der Speisekammer verschanzt - okay, von mir aus kann ich jetzt gerne aufwachen!!! Sie schloss die Augen, zählte bis Zehn und als sie die Augen wieder aufriss - saß sie immer noch im Flur. Sie hatte es gewusst, doch die Verzweiflung war so groß, dass ihr die ersten Tränen in die Augen schossen.
Sie wollte gerade aufstehen und zu ihrer Mutter ins Bett kriechen, als ein lautes Heulen sie zusammenfuhren ließ - Wolfsgeheul. Dann war vor der Tür ein Kratzen und Schnauben zu hören - und auf einmal wurde die Tür mit einem lauten Krachen zu Boden geschleudert. Tina hielt den Atem an; vor ihr standen zwei ausgewachsene Werwölfe, die Mäuler so groß wie Tinas gesamter Kopf, bespickt mit dolchähnlichen Zähnen und langen, dreckigen, aber messerscharfen Klauen. Die großen Narben auf dem gebückten Oberkörper zeugten von den unzähligen Kämpfen untereinander und nun kamen die Biester mit sabbernden Mäulern und mordlüsternen Augen langsam auf sie zu, bis sie fast über ihr standen. Wieder konnte Tina nicht schreien, da ihr ein unsichtbares Band die Kehle zuschnürte, doch als zwischen den Beinen der Ungeheuer das Baby-Format auftauchte und sie mit fiesem Grinsen anstarrte, waren ihre Nerven am Ende: Sie holte tief Luft und - ein gellender Schrei ließ das gesamte Haus erzittern. Tina hielt sich ein Ohr zu, im anderen wollte das Trommelfell explodieren, obwohl der Schrei schon fast zu hoch für das menschliche Gehör war.
Die Werwölfe lagen auf dem Boden, jaulten kläglich und sahen aus, als wollten sie sich am liebsten die Ohren abkratzen. Irgendwann hatten sie es geschafft, aus der Haustür zu kullern, dann rannten sie, das Kind auf dem Rücken, hinaus in die Nacht Richtung Vollmond. Tina sah sich um; auf der untersten Treppenstufe stand Felix, den Mund weit aufgerissen und in den Augen stand ihm das pure Entsetzen geschrieben. In Tinas Ohren pochte es immer noch heftig, doch sie brachte ein dankbares Lächeln zustande. Ihr Bruder sah sie an, machte den Mund zu und sagte: "Hoffentlich ist das hier nur ein Traum. Dann kriege ich keinen Ärger mit Mama, dein Arm ist nicht nur mit einer Sehne verbunden und es stinkt hier nicht so erbärmlich." - "Und wir müssten nicht herausfinden, ob auch Werwolfbabybisse Vollmondfieber hervorrufen", setzte seine Schwester hinzu. Nachdenklich sah ihr Bruder zur Tür hinaus in den Himmel. "Ich denke nicht, sonst würde ich, denke ich, nicht mehr hier stehen". "Stimmt, aber trotzdem würde ich von jetzt an meine Zunge hüten", grinste Tina und ließ dabei ein paar äußerst spitze Zähne hervorblitzen.
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