von Anna Schäfer - 24.02.2006
Ende Januar hat die Hamas die Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten gewonnen. Sie ist eine Organisation, die für den bewaffneten Kampf gegen Israel steht und auch Selbstmordanschläge auf unschuldige Bürger befürwortet. Jetzt wurde Hamas-Führer Ismail Hanija damit beauftragt, die Regierung zu bilden. Kann es mit einer gewalttätigen Organisation an der Macht Frieden zwischen Palästinensern und Israelis geben?
Sehr viele Menschen bezweifeln das. In Europa und den USA wurde die Hamas bisher als Verbrecherorganisation eingestuft. Deshalb hat das Wahlergebnis viele Menschen auf der Welt erschreckt. Die deutliche Mehrheit der Palästinenser hat am 25. Januar einer Organisation ihre Stimme gegeben, die für viele grausame Anschläge auf Israelis verantwortlich ist. Sie haben dadurch bestimmt, wer künftig die politischen Geschäfte in ihrem Land führen soll.
In den Palästinensergebieten wurde der Sieg der Hamas dagegen ausgelassen gefeiert. Knapp einen Monat nach dem Wahlsieg ist der Hamas-Führer Ismail Hanija nun von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas offiziell zum neuen Regierungschef ernannt worden. Hanija hat fünf Wochen Zeit, seine Regierungsmannschaft zu bilden.
Ein Volk, aber kein Staat
"Hamas" ist die Abkürzung für den arabischen Ausdruck "Harakat al-muqawama al-islamiyya", was übersetzt "Islamische Widerstandsbewegung" bedeutet. Mit Widerstand ist der Kampf gegen Israel gemeint. Als der Staat Israel im Jahr 1948 gegründet wurde, mussten viele Palästinenser das Land verlassen, obwohl ihre Familien seit Generationen dort gelebt hatten. So wurden etwa 700.000 Palästinenser zu Flüchtlingen. Sie zogen sich in zwei Gebiete zurück, die damals von den muslimischen Nachbarstaaten Jordanien und Ägypten kontrolliert wurden: in das Westjordanland und den Gaza-Streifen.
Nach dem Sechstagekrieg im Jahr 1967 haben israelische Streitkräfte diese beiden Gebiete jedoch besetzt. Israel übernahm auch dort die Kontrolle. Ein international anerkannter Staat "Palästina" existiert bis heute nicht. Allerdings besitzen der Gaza-Streifen und das Westjordanland – die so genannten palästinensischen Autonomiegebiete – seit 1993 eine gewisse Unabhängigkeit (Autonomie).
Ziel: Gründung eines Gottesstaates
So hat die palästinensische Autonomiebehörde, in deren Parlament die Hamas nun die absolute Mehrheit hat, ähnliche Aufgaben wie die Regierung eines souveränen Staates. "Souverän" ist ein Land dann, wenn es die uneingeschränkte Herrschaftsgewalt besitzt - also zum Beispiel über eine eigene Polizei, Gerichtsbarkeit und Armee verfügt - und unabhängig ist.
Die Hamas ist eine 1987 von Scheich Ahmed Jassin gegründete gewalttätige, religiöse Organisation. Sie hatte von Anfang an das Ziel, einen islamistischen "Gottesstaat" zu gründen. In "Gottesstaaten" gibt es keine Trennung von Religion und Staat. Vorbild dafür sind Länder wie der Iran, in denen religiöse Führer die Gesetze erlassen. Wer sich nicht an das heilige Buch der Muslime, den Koran, hält, wird hart bestraft. So wird im Iran Ehebruch mit Steinigung geahndet, und auch wer wiederholt beim Alkoholtrinken erwischt wird, muss mit der Todesstrafe rechnen. Frauen haben weniger Rechte als Männer.
Es gibt Gerüchte, dass die Hamas die so genannte Scharia als Grundlage für die Gesetzgebung einführen will. Die Scharia ist ein Rechtssystem, das sich auf den Koran und die Aussagen des Propheten Mohammed beruft. Sie regelt das religiöse, soziale und politische Leben der Muslime. Viele palästinensische Frauen und Mädchen befürchten nun, dass sie in Zukunft gezwungen sein werden, aus religiösen Gründen ein Kopftuch zu tragen.
Mörder träumen vom Paradies
Die Hamas beansprucht nicht nur die Autonomiegebiete, sondern das gesamte Staatsgebiet Israels für das palästinensische Volk. Sie versucht mit allen Mitteln, Israel zu zerstören und die Juden zu vertreiben. Dafür ist den Kriegern jedes Mittel recht: Sie bekämpfen nicht nur die Armee, sondern sogar unschuldige Israelis - egal ob Männer, Frauen oder Kinder. Bei zahllosen blutigen Anschlägen der Hamas sind in den vergangenen Jahren hunderte israelische Bürger und Soldaten ums Leben gekommen.
Seit 1993 hat die Organisation immer wieder Selbstmordattentäter nach Israel geschickt. Das sind Menschen, die Sprengstoff an ihrem eigenen Körper anbringen und dann unter ihrer Kleidung verstecken. Als "lebende Bomben" stellen sie sich unauffällig an besonders belebte Plätze wie Bushaltestellen oder setzen sich in gut besuchte Cafés. Dann sprengen sie sich in die Luft und versuchen auf diese Weise, möglichst viele Menschen mit sich in den Tod zu reißen. Dass sie selber dabei sterben, nehmen die Attentäter in Kauf. Ihnen wird eingeredet, dass es eine große Ehre sei. Und so glauben die verblendeten Mörder von Männern, Frauen und Kindern, dass sie nach ihrem Tod das Paradies erwartet.
Große Wut auf Israel
Israel hat eine Mauer entlang der Grenzen gebaut und will auf diese Weise die Attentäter davon abhalten, nach Israel zu kommen. Jeder Palästinenser, der aus den Autonomiegebieten nach Israel einreisen will, wird von israelischen Soldaten genau überprüft. Friedliche Palästinenser, die einfach nur zu ihrer Arbeitsstelle fahren möchten, empfinden die strengen Kontrollen oft als demütigend. Für eine wenige Kilometer lange Fahrt müssen sie manchmal einen halben Tag im Auto sitzen. Selbst alte Männer müssen es hinnehmen, dass sie ständig von jungen israelischen Soldaten durchsucht werden und deren Fragen beantworten müssen. Manchmal, wenn es wieder einmal einen Anschlag gegeben hat, machen die Israelis die Grenzen ganz dicht. Palästinenser haben dann keine Möglichkeit, zum Arbeiten nach Israel zu fahren und Geld zu verdienen.
Die israelische Staatsführung hat außerdem immer wieder Führungsmitglieder der Hamas gezielt getötet, um damit die Organisation zu zerschlagen. So starb im Jahr 2004 auch Scheich Ahmed Jassin bei einem gezielten israelischen Raketenangriff. Allerdings ist die Hamas durch solche Aktionen nicht geschwächt worden. Im Gegenteil, die Wut der palästinensischen Bevölkerung auf die Israelis ist nur noch weiter gewachsen. Denn bei den israelischen Vergeltungsangriffen sterben oft nicht nur hohe Hamas-Führer, sondern auch Frauen und Kinder. Dadurch bekommt die Hamas weiter Zulauf und kann ihre Aktivitäten ausweiten. In den vergangenen Jahren hat sich die Spirale der Gewalt immer schneller gedreht.
Schulen und Krankenhäuser für die Ärmsten
Viele Menschen in den palästinensischen Autonomiegebieten haben die Hamas nicht gewählt, weil sie Menschen töten und Israel zerstören wollen. Längst nicht alle Wähler wollen einen islamistischen Gottesstaat. Die Hamas hat die Herzen und Stimmen der Menschen in den Palästinensergebieten vor allem gewonnen, weil sie öffentliche Gebäude wie Schulen gebaut hat. In Krankenhäusern behandelt sie arme Menschen kostenlos. Die Hamas kümmert sich um die Menschen, die arm, krank oder alt sind.
Viele palästinensische Familien wohnen in Flüchtlingslagern und haben kaum das Nötigste zum Leben. Von der vorherigen Regierung der "Fatah" (gesprochen Fatach), zu der auch der im November 2004 verstorbene Jassir Arafat gehörte, fühlt sich die Bevölkerung im Stich gelassen. Viele Fatah-Politiker sollen sich selbst bereichert und luxuriös gelebt haben, während das einfache Volk hungerte. Deshalb setzen nun viele Menschen ihre Hoffnung in die Hamas.
Israel beschließt Strafmaßnahmen
In Israel hat der Wahlausgang dagegen Entsetzen ausgelöst. Eine Krisensitzung jagt nun die andere, denn auf dieses Ergebnis war man nicht vorbereitet. Verhandlungen mit der Hamas lehnen die Politiker der israelischen Regierung strikt ab. Erst müsse diese Organisation der Gewalt abschwören und anerkennen, dass der Staat Israel das Recht habe zu existieren. Um Druck auszuüben, hat die Regierung des amtierenden Ministerpräsidenten Ehud Olmert alle Finanzhilfen für die palästinensischen Autonomiegebiete gestoppt. Bislang bekam die Autonomiebehörde umgerechnet etwa 40 Millionen Euro von Israel.
Olmert forderte auch das Ausland auf, den Palästinensern kein Geld mehr zu überweisen. Das Problem ist allerdings, dass diese Maßnahmen vor allem die ohnehin sehr armen Teile der Bevölkerung treffen werden - auch die, die gar nichts mit den Verbrechen gegen Israelis zu tun haben wollen. Und das wiederum könnte dazu führen, dass noch mehr Menschen die Hamas unterstützen, da sie ja die einzigen sind, die der Bevölkerung helfen.
Fahrplan für den Frieden außer Kraft gesetzt
Politiker aus Europa, Russland und den USA haben im Jahr 2003 der israelischen und der palästinensischen Führung einen Dreistufen-Plan – die so genannte "Roadmap" (Fahrplan) – vorgelegt. Wenn er von beiden Seiten eingehalten wird, sollen Palästinenser und Israelis bald in Frieden miteinander leben können. Sowohl die palästinensische als auch die israelische Regierung haben der Vereinbarung damals zugestimmt. Doch jetzt scheint dieser Plan endgültig gescheitert zu sein.
Denn schon die erste Stufe sieht vor, dass beide Seiten die Gewalt stoppen. Die Palästinenser sollen den Staat Israel anerkennen. Im Gegenzug soll Israel alle Gebiete räumen, die den Palästinensern gehören. Tatsächlich hat Israel im vergangenen Sommer alle seine Soldaten aus dem Gaza-Streifen - nicht jedoch aus dem Westjordanland - abgezogen. Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, soll in der zweiten Stufe damit begonnen werden, über einen unabhängigen palästinensischen Staates zu verhandeln. Dabei müssen vor allem die genauen Grenzen festgelegt werden. Im dritten und letzten Schritt soll es dann zur Staatsgründung kommen. Wenn Israelis und Palästinenser jeweils ihren eigenen Staat haben, so hofft man, ist eine friedliche Nachbarschaft möglich. Mit dem Wahlsieg der Hamas ist dieses Ziel jedoch in sehr weite Ferne gerückt.
Trotzdem bleibt die Hoffnung, dass beide Seiten miteinander reden, statt sich weiter zu bekämpfen. Die Hamas muss sich von einer gewalttätigen Organisation zu einer verantwortungsvollen Partei wandeln. Denn sie hat nun die Aufgabe, für das palästinensische Volk die beste Lösung zu finden. Und die kann nicht Krieg und Gewalt lauten.
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