Tanja ist fünfzehn Jahre alt und leidet unter der Krankheit Bulimie. Ihre Gedanken drehen sich ständig um Essen, Nichtessen und ihr Gewicht. Auch für ihre Angehörigen ist die Ess-Störung eine große Belastung, der sie meist hilflos gegenüberstehen. Wie stark das Essen ihren Tagesablauf bestimmt, hat Tanja in dem folgenden Bericht eindrucksvoll beschrieben.
"6:30 Uhr. Ein neuer Tag. Ich freue mich. Nein, eigentlich freue ich mich auf 13.30 Uhr, heute Mittag. Bis dahin muss ich mich noch gedulden, das sind noch sieben Stunden. Dann kann ich endlich essen. In die Schule gehen ist eine gute Ablenkung, dort vergeht die Zeit schneller. Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust, in die Schule zu gehen. Dort nerven mich alle nur, und außerdem fühle ich mich eh so unwohl in meiner Haut und bin einfach nicht zufrieden mit mir.
Nach einem kurzen Blick auf die Waage habe ich die Bestätigung, dass ich weder zu- noch abgenommen habe. Das beruhigt mich. Natürlich hätte ich lieber abgenommen, aber ich muss aufpassen, denn wenn ich unter die 42 Kilogramm rutsche, muss ich zurück in die Klinik. Das will ich nicht, und deswegen schaffe ich es auch, meine 42 Kilogramm zu halten. Ist ja völlig wurst, mit welchem Essverhalten.
Unten in der Küche setze ich mich an den Frühstückstisch und sage meinen Eltern direkt ohne irgendwelche Anstalten knallhart ins Gesicht, dass ich noch nicht essen möchte. Ist mir egal, was die denken, immerhin nehme ich ja nicht weiter ab, oder bin lebensbedrohlich untergewichtig wie damals.
Der Kampf mit den Kalorien
Mist, es ist schon spät. Meine Trambahn schaffe ich nicht mehr, wenn ich mit meinem Rad fahre. Mama denkt wohl das gleiche und bietet meinem kleinen Bruder und mir deswegen an, uns mit dem Auto hin zu fahren. Ich reagiere total gereizt und aggressiv. Ich schreie sie an und beklage mich, dass ich nicht so ein faules Ding sein möchte und nicht auch mal so dick werden will wie sie.
Oh Gott, das war gemein. Mama ist leise, ich weiß, dass sie das gerade sehr verletzt hat. Aber ich hab' sie in der Hand, irgendwie kann sie mir nicht böse sein und nimmt deswegen das Angebot, mich zu fahren, nicht zurück. Ich bin in einer Zwickmühle. Fahre ich nämlich nicht mit ihr mit, komme ich zu spät in die Klasse und dann schauen natürlich alle Mitschüler automatisch auf mich, das heißt meine Figur, und das will ich auf keinen Fall, deswegen stimme ich doch zu.
Leider hat mir meine beste Freundin in der Trambahn einen Sitzplatz freigehalten. Ich lüge sie an, dass mein Bein eingeschlafen ist, und ich deswegen lieber stehen will. Schließlich will ich so viele Kalorien verbrauchen wie es nur geht. Auch in der Schule verbiete ich mir, mich anzulehnen, spanne meine Muskeln dauernd an, und renne trotz der Kälte nur im T- Shirt rum. Bevor ich esse, muss ich einfach schon etwas geleistet haben.
Weil ich heute Morgen nicht mit dem Fahrrad gefahren bin, melde ich mich, und bitte meinen Lehrer, auf die Toilette gehen zu dürfen, wo ich heimlich noch Kniebeugen mache. Auch in der Pause renne ich extra die Treppen hoch und runter, mit der Ausrede, meinen Bruder unbedingt suchen zu müssen. Um meine Freundinnen aber nicht auf falsche Gedanken zu bringen, kaufe ich mir extra eine Tafel Schokolade. Inzwischen fällt es mir gar nicht mehr schwer, sie zu täuschen, das geht alles automatisch: Ich breche mir immer wieder ein neues Stückchen davon ab und lasse es in meiner Hosentasche verschwinden, während ich gleichzeitig schwärme, wie gut sie schmeckt. Niemand merkt etwas.
Endlich befreit - endlich essen!
Die letzten beiden Stunden sind immer die schönsten. Da fängt mein Magen nämlich immer an, zu knurren. Das liebe ich, weil ich weiß, dass es ja nicht mehr lange dauert, bis ich endlich essen darf. Essen, bis ich satt bin. Ständig verbiete ich mir bestimmte, oder besser gesagt fast alle Lebensmittel, und dann gönne ich mir es, einmal am Tag so richtig alles gesunde, kalorienarme Zeug in mich reinzustopfen, bis ich das Gefühl habe, gleich zu platzen.
Die Schule ist aus. Vorfreude. Ich bin wahnsinnig gut drauf und so glücklich, einfach weil ich weiß, dass ich mich nur noch eine halbe Stunde gedulden muss. Seit gestern Mittag freue ich mich schon wieder auf diesen Augenblick.
Jetzt bin ich zu Hause und mir läuft bereits vor der Haustür das Wasser im Mund zusammen. Meine Mutter habe ich voll unter Kontrolle, sie kocht alles für mich, was ich will, weil sie einfach nur froh ist, dass ich wenigstens mittags ausreichend esse.
Lecker! all diese Köstlichkeiten auf dem Tisch: Die riesige Salatschüssel und der ganze Wok voll mit Gemüse! Wie vor jedem Mittagessen zwinge ich mich,1,5 Liter Mineralwasser zu trinken, und mache davor im Wohnzimmer noch schnell 50 Sit- Ups. Erst dann setze ich mich an den Tisch. Zu Beginn esse ich noch langsam und sehr kontrolliert. Aus der einen Schüssel Salat werden zwei. Oh Mann, wie gut das schmeckt! Ich habe noch kein schlechtes Gewissen, denn auch das Dressing besteht nur aus 0,1% Joghurt, Essig und Süßstoff. Als ich aber dann auch noch die dritte Schüssel mit dem Salat, den Tomaten, Gurken, Paprika, Karotten, Radieschen voll schöpfe und auch diese aufgegessen habe, ist es vorbei.
Ich will in mein Zimmer und alleine fressen!
Jetzt ist eh schon alles zu spät. Iss jetzt weiter, denn du kriegst heute den ganzen Tag nichts mehr zum Essen und morgen Vormittag auch nicht. Also, hau rein jetzt! Meine Mutter bittet mich, wenigstens ein bisschen Kohlenhydrate zu essen, aber ich beachte sie gar nicht und nehme mir die nächste Schüssel Salat. Die Teller meiner Familie sind inzwischen leer. Mir ist es peinlich weiter vor ihnen zu essen. Ich will in mein Zimmer und alleine fressen! Aber ganz tief in mir will ich auch, dass sie sehen, wie viel ich esse, und merken, wie schlecht es mir eigentlich geht, obwohl ich wieder esse. Und dass ich nicht mit den 42 Kilo wieder die gesunde Tochter bin, der es jetzt prächtig geht. Immer schneller schlucke ich das Essen runter.
Ich werde nervös. Jetzt stehen alle vom Tisch auf, nur Mama weiß nicht recht, was sie tun soll. Ich will mehr, mehr, mehr! Als nur noch ein kleiner Rest in der großen Salatschüssel übrig ist, vergeht mir die Lust. Die restlichen Salatblätter brauche ich nicht mehr, ich will ja nicht dick werden, aber der Gemüsewok macht mich unheimlich an! Schnell schöpfe ich mir eine riesige Portion auf meinen Teller, bevor Mama ihn abräumen kann. Das Gemüse vermische ich mit so viel Pepperoni, dass mir die Nase läuft, weil es so scharf ist. Noch eine Portion, ich habe Hunger! Mama steht neben mir, ich spüre genau, wie sie mit sich selbst gerade kämpft und sich krampfhaft überlegt, was sie unternehmen soll. Sie weiß genau, wie ich mich nach dem Mittagessen jeden Tag fühle. Ich schaue ihr in die Augen, während ich das Gemüse gierig in mich hineinstopfe.
Warum tu ich das?
“Tu doch was, Mama, bitte, bitte halte mich ab, zerre mich von diesem scheiß Essen weg, halt mich fest oder unternimm IRGENDWAS, Hauptsache ich höre auf zu essen!!“ flehe ich innerlich. Aber als meine Mutter dann tatsächlich auf mich zukommt und mir sagt, ich sollte jetzt aufhören zu essen, weil ich danach sonst unheimliche Bauchschmerzen haben werde, werde ich total aggressiv. Ich schreie sie an, dass sie mich essen lassen soll, wie ich es will, und dass sie froh sein kann, dass ich überhaupt wieder esse. Trotzdem kommt sie auf mich zu und hält mich fest. Sie will mir damit nur Gutes tun, das weiß ich, aber in diesem Moment bringt mich das zum Durchdrehen. Ich schlage sie, weil ich nur eines im Kopf habe: nämlich weiter fressen.
Mir ist alles egal geworden, aber das Mittagessen ist meine einzige Freude, und die lasse ich mir von niemandem wegnehmen! Ich trete ihr so heftig gegen das Schienbein, dass sie aufstöhnt. “Ja, weiter so, kämpfe, um essen zu dürfen!“ Als sie immer noch nicht loslässt, beiße ich ihr in den Arm, und schreie, dass sie alles falsch macht. Dabei heule ich. Wenn mich jetzt jemand aus meiner Klasse sehen würde, der würde denken, ich wäre vollkommen gestört. Aber wahrscheinlich bin ich das auch. Ich versuche mich von meinen Gedanken abzulenken, indem ich mich voll und ganz dem Essen widme und bereits zum nächsten Apfel greife.
Meine Mutter hat jetzt endlich aufgegeben. Ich hole mir noch die ganze Packung Erdbeeren, stopfe noch schnell weitere Birnen, Pfirsiche und Nüsse in eine Plastiktüte, klemme mir noch zweimal 500 Gramm 0,1% Joghurt unter die Arme und breite meine Errungenschaften im Schlafzimmer neben dem Bett aus. Schnell ziehe ich mich bis auf die Unterwäsche aus, mache das Heizkissen an, schiebe eine DVD in den Fernseher und esse weiter. Das Telefon klingelt, ich gehe nicht dran. Jetzt darf mich wirklich niemand stören. Ich beiße in die Birne, dann habe ich keine Lust mehr, diese weiter zu essen, vermische den Joghurt mit den Nüssen und schlinge alles zusammen hinunter, das Läuten ignoriere ich immer noch. Dieses scheiß Telefongebimmel soll endlich aufhören! Die Hälfte der Nüsse fällt ins Bett, aber das ist mir egal. Den Mais, den ich mir davor schon gebunkert habe, esse ich jetzt mit den Fingern aus der Dose.
Ich bin so hässlich und eklig!
Mein Bauch spannt langsam. Aber davon lasse ich mich nicht irritieren, und schon ist der nächste Apfel in meinem Magen. Ich schaue auf die Uhr. Schon gute 2 Stunden habe ich bereits durchgefressen. Nach einem weiteren Pfirsich ist mir dann doch endgültig übel. Als ich die letzten Nüsse hinunterschlinge und merke, wie der Fressanfall sich dem Ende nähert, ist es aus. Jetzt ist der Tag gelaufen. Alles schöne, das Einzige, wofür es sich gelohnt hat, heute Morgen aufzustehen, ist vorbei.
Ich glaube, ich wäre gar nicht mehr fähig, mich aufrecht hinzustellen, geschweige denn mich hinzusetzen und frage mich wie so oft, warum mein Magen nicht einfach mal nachgibt und platzt.
Bevor ich aber noch weiter nachdenken kann, überfällt mich eine derartige Müdigkeit, dass ich sofort einschlafe.
Nach ungefähr drei Stunden wache ich wieder auf. Schon beim Augenöffnen werde ich an mein Tun vorhin erinnert. Sofort fange ich an zu weinen. Was bist du nur für ein Schwächling. Bist zu nichts imstande, außer zu fressen, und dann den ganzen Tag zu verschlafen, wo nicht eine einzige Kalorie davon wieder verbraucht wird. Sofort musst du schwimmen gehen! Aber ich kann nicht. Mit meinem Blähbauch traue ich mich gar nicht ins Schwimmbad, und außerdem könnte ich mich dazu jetzt nicht aufraffen. Ich habe doch so viel gegessen, wieso bin ich dann so schlapp?
Ich werde wütend und muss mich unbedingt abreagieren. Durch das ganze Haus schreie ich nach meiner Mutter. Wie immer, wenn es mir schlecht geht. Als sie vor mir steht, mache ich ihr Vorwürfe, warum sie mich nicht von meiner Heißhungerattacke abgehalten hat. Als sie meinte, dass sie dass sehr wohl versucht hätte, fange ich richtig an zu heulen, stampfe auf den Boden und befehle ihr, sofort das Zimmer zu verlassen. Das macht sie auch, aber als sie dann draußen ist, bin ich nur noch unglücklicher. Ich wünsche mir, dass sie wieder zurück zu mir kommt, mich in den Arm nimmt, tröstet und mir verspricht, dass alles gut wird.
Ich bin so hässlich und eklig, was mir ein kurzer Blick in den Spiegel noch mal bestätigt. Das ganze Weinen nimmt mir meine Kraft, und ich sinke auf den Boden. Dort gebe ich mir eine Ohrfeige. und noch eine, ich will mich spüren. Lebe ich überhaupt? Bin ich wirklich dasselbe fröhliche Mädchen, das ich mal war? Was kann ich überhaupt noch, außer zu essen und zu schlafen?
Ich fühle mich so schlecht und dick!
Ich bin so erschöpft und mit meinen Nerven völlig am Ende, aber ich habe noch keine Hausaufgaben gemacht. Es ist schon halb acht, als ich mich endlich an meinen Schreibtisch setze, und anfange zu lernen. Dabei kann ich mich nicht konzentrieren, ich fühle mich so schlecht und dick. Ich muss dieses blöde Essen irgendwie wieder loswerden! Deswegen gehe ich auf die Toilette, beuge mich über die Kloschüssel und versuche, das Essen wieder zu erbrechen. Vergeblich. “Wieso kann ich das nicht?“ Aber es würde sich ja doch nicht lohnen, denn das viele Essen ist jetzt eh schon verdaut und ich denke, spüren zu können, wie sich das ganze Fett davon immer noch in meinem Körper verteilt und ansetzt.
Nun gibt es nur noch eine Lösung: Meine Süßstoffkaugummis einen nach dem anderen schiebe ich mir in meinen Mund, kaue jeden Streifen ungefähr 20 Sekunden, bevor ich mir gierig den nächsten reinschiebe. Ich weiß, dass ich von den nun an die 150 Kaugummis (bei übermäßigem Verzehr abführend!) morgen Durchfall bekomme. Die Blähungen und die Bauchschmerzen, die ich deswegen heute Nacht haben werde, sind mir egal. Immer mehr, immer mehr kaue ich, spucke ich wieder aus, und kaue wieder. Solange, bis mir kotzübel ist von dem Geschmack im Mund. “Hoffentlich klappt das!“
Außerdem habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich meiner Freundin schon wieder abgesagt habe, als sie mich heute in der Schule gefragt hat, ob ich mit ihr in die Stadt gehen will, und ich nicht wollte, nur wegen meinem Mittagessen, auf das ich natürlich nicht verzichten konnte. Hoffentlich ist sie nicht enttäuscht, aber ich werde mich morgen noch mal bei ihr entschuldigen, und sie anschwindeln, dass ich Nachhilfe geben musste oder so, mir wird schon was einfallen. Ich wasche mich noch kurz und dann, irgendwann, ich denke mal so gegen Mitternacht, schlafe ich ein."
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