von Britta Pawlak
Karl-Heinz Richter, geboren 1946, erzählt uns in einem Interview von seinem Fluchtversuch aus der DDR in den Westen. Bereits als Schüler lehnte er sich gegen die sozialistische Diktatur im Land auf. Sein Leben in Ost-Berlin änderte sich grundlegend, als am 13. August 1961 die Berliner Mauer gebaut wurde. Als 17-Jähriger plante Karl-Heinz gemeinsam mit Freunden, aus seiner Heimat zu fliehen. Er wollte den Zwängen des DDR-Regimes entkommen und endlich "frei sein". Dafür setzte er sogar sein Leben aufs Spiel.
Im Januar 1964 setzte der junge Karl-Heinz Richter seinen lebensgefährlichen Plan in die Tat um und schlich sich mit seinem Freund in der kalten Winternacht auf riskante Weise auf die Gleise des Bahnhofs Berlin-Friedrichstraße, um auf den anfahrenden Zug zu springen und somit nach West-Berlin zu gelangen. Doch er stolperte und schaffte es nicht, sich an dem fahrenden Zug hochzuziehen. Er fiel neben die Gleise und blieb allein zurück, während seinem Freund die Flucht gelang. Aus Angst, von den Grenzposten entdeckt zu werden, sprang Karl-Heinz Richter über ein Geländer und stürzte mehrere Meter in die Tiefe - dabei brach er sich beide Beine.
Schwer verletzt wurde er einige Tage später von der DDR-Staatssicherheit verhaftet und schließlich in das Stasi-Gefängnis in Berlin Pankow gebracht. Dort erlebte er eine Zeit des Grauens. Erst viel später, im Jahr 1975, durfte er endlich die DDR verlassen und mit seiner Familie in den Westen übersiedeln. Heute ist er Autor und führt Besucher durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Seine Erlebnisse auf der Flucht und im Stasi-Gefängnis hat er in seinem Buch "Mit dem 'Moskau-Paris-Express' in die Freiheit" verarbeitet.
Herr Richter, in Ihrem Buch schreiben Sie, dass Ihnen die DDR-Propaganda schon immer zuwider war, schon in Ihrer Schulzeit lehnten Sie das Regime ab. Wie kam es zu Ihrer frühen kritischen Haltung und Auflehnung gegen das sozialistische System in der DDR?
Ich wuchs in einer zwar geteilten, doch immer noch offenen Stadt auf. Ohne Mauer. Die Jugendlichen in Westberlin lebten total anders. Ohne Zwänge, sie brauchten sich nicht politisch anpassen. Sie konnten ihre Jugend ausleben. Dies konnte man in der DDR nicht. Nur die Angepassten fühlten sich in diesem System wohl.
Berlin hatte zu Zeiten der deutschen Teilung eine Sonderstellung. Nach Ihren Beschreibungen empfanden Sie das Leben in Ostberlin vor dem Mauerbau durchaus als angenehm. Verspürten Sie schon damals den Drang, die DDR zu verlassen und lieber im Westen zu leben? Wann kam der Punkt, an dem für Sie fest stand, dass Sie sich keine Zukunft mehr in der DDR vorstellen können?
Westberlin wurde damals "Frontstadt" genannt. Ein Dorn im Fleisch der DDR und demokratisch im Gegensatz zur restlichen DDR. Hier konnte jeder der DDR-Diktatur den Rücken kehren. Für die Kommunisten ein nicht zu akzeptierender Zustand und durch das Viermächteabkommen getragen. Dies konnten selbst die Kommunisten nicht ändern, ohne geltende Verträge zu brechen. Für uns als Kinder und Jugendliche war das ein komfortabler Zustand. Erst als am 13. August 1961 die Mauer gezogen wurde, wurde für uns deutlich, wie eingesperrt wir ab jetzt waren. Von diesem Tag an wurde der Wunsch sehr groß, diesem System den Rücken zu kehren.
Wie haben Sie als regelmäßiger "Grenzgänger" die Zeit in Berlin vor dem Mauerbau erlebt? Wie war die Stimmung in Ost- und Westberlin und inwiefern unterschieden sich die Einstellungen der Menschen in Ost und West?
Die Menschen in Westberlin waren nur glücklich, nicht in einer Diktatur leben zu müssen. Die wirtschaftlichen Bedingungen waren nicht vergleichbar mit denen in der DDR - Konsum im Überfluss. In so einer Zeit entsteht selbstverständlich auch Neid. Die Ostberliner sahen diesen Unterschied schon, passten sich jedoch an. Die Westberliner schauten schon arrogant zu den Ostberlinern herab. Bei den Ostberlinern entstand dadurch eine Trotzreaktion. Nach dem Motto: Wir werden es schon packen, irgendwann sind wir wirtschaftlich auch so stark.
Es war ein Schockerlebnis nicht nur für die Berliner, als am 13. August 1961 über Nacht die Mauer errichtet wurde. Was waren besonders einschneidende Erfahrungen als Jugendlicher in Ostberlin? Worin hat sich die Unfreiheit für Sie am meisten bemerkbar gemacht?
Deutlich wurde für mich persönlich das Gefühl, eingesperrt zu sein, als es die ersten Mauertoten gab. Da wurde mir klar, diesem System nicht dienen zu wollen. Als man den jungen Günter Litfin, diesen armen Erschossenen, kurz nach dem Mauerbau aus der Spree herausholte, die Fernsehkameras der Berliner Abendschau brachten diese Bilder, empfand ich nur Wut und unendliche Traurigkeit. Ich wusste, ab jetzt machen sie ernst. Die Tötung des 18-jährigen Peter Fechter ein Jahr darauf war in meinen Augen wie eine öffentliche Hinrichtung. Die Welt schaute zu, wie er nach den Schüssen durch die Grenzposten langsam verblutete, und keiner half. Bis heute ein Trauma, ich werde diese Bilder nicht los. Zumal ich durch einen damaligen Freund Peter Fechter kannte. Ab da war der Entschluss gefasst: In diesem Staat möchte ich nicht leben, ich werde alles versuchen, um abzuhauen. Nur sterben wollte ich nicht so wie diese beiden.
Wie haben Sie die Haltung der jungen Leute in Ihrem Umfeld gegenüber dem DDR-Regime erlebt? Handelten konforme - also "angepasste" - Bürger in den meisten Fällen aus Angst? Was, denken Sie, waren ihre Motive?
Aus meinem Umfeld heraus entstand der Wunsch, dieses Land zu verlassen. Anpassen war für uns nicht akzeptabel. Andere ergaben sich der Realität. Sie passten sich an. Ihre Meinung war: Wer sich nicht anpasst, schadet sich nur selbst. Obwohl sehr viele von diesem System nicht überzeugt waren, unternahmen sie nichts, um nicht aufzufallen. Jeder wusste, Widerstand zu leisten ist gefährlich. Jeder wusste es. Die wenigen, die es doch taten, wurden von der Masse belächelt. Weshalb Widerstand leisten, wenn der Erfolg nicht voraussehbar war?
In Ihrem Bericht greifen Sie auch das Thema Zivilcourage auf und schreiben, dass es "zu wenige" waren, die sich aufgelehnt haben. Inwieweit können Sie verstehen, dass sich viele Menschen aus Unsicherheit und Angst den Umständen angepasst und sich mit dem DDR-System arrangiert haben?
Es liegt in der Natur der Menschen. Die Menschen sind eben so, wie sie sind. Den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, ist stressfrei. Stellung zu beziehen ist nicht jedermanns Sache. Viele Menschen entwickelten den so genannten Tunnelblick. Wie die drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Zivilcourage liegt nicht jedem, auch heute nicht.
Nicht wenige haben sogar freiwillig mit der SED, der herrschenden "Einheitspartei" in der DDR, zusammengearbeitet und im Auftrag der Stasi Mitmenschen bespitzelt - auch Sie haben das selbst erleben müssen. Ein Kumpel Ihres Freundes sagte gegen Sie und Ihre Freunde aus und gab Informationen über die Flucht an die Stasi weiter. Was, glauben Sie, war der Beweggrund solcher Menschen? Wie viele waren Ihrer Ansicht nach von der DDR-Ideologie wirklich überzeugt oder handelten eher aus persönlichem Vorteil heraus?
Über die Motive dieser Typen kann man nur Vermutungen anstellen. Die wenigsten handelten meiner Meinung nach aus Überzeugung. Für die Menschen, die so etwas mit Überzeugung taten, könnte man ja beinahe noch Verständnis aufbringen. Sie dachten, für ihre Ideale einzustehen, ihre Heimat zu stärken und jeden "Klassenfeind" bekämpfen zu müssen. Die Überzahl dieser Spitzel und Verräter tat dies nur aus persönlichen Gründen. Viele von ihnen konnte man erpressen, weil die staatlichen Organe sie bei Gesetzesverstößen erwischt hatten. Sehr viele wollten also einfach nur ihre eigene Haut retten. Und nicht wenige taten dies, weil es ihnen Spaß machte, andere Menschen ins Unglück zu stürzen.
Die DDR-Führung betrieb eine aggressive Stimmungsmache und die "Erziehung" der Menschen zu möglichst staatstreuen Bürgern begann schon früh. Wie groß war das Interesse der Menschen für die Politik im eigenen Land? Wurden politische Themen im Kreis der Familie und unter Freunden lieber ausgespart?
Ja, man sprach in der Familie und unter Freunden nicht darüber, da man sich über diese Art der politischen Propaganda einfach nur lustig machte. Für den normalen, nicht linientreuen Bürger war diese Verniedlichung der DDR einfach nur peinlich.
Sie hatten Ihren Plan zur Flucht schon länger geplant und nur Ihre engsten Freunde, die mit Ihnen flüchten wollten, waren eingeweiht. Ihren Eltern, Bekannten und bis zuletzt auch Ihrer Freundin haben Sie Ihr Vorhaben verheimlicht. Wie sind Sie als junger Mensch mit dieser Situation umgegangen? Würden Sie sagen, dass es typisch für unzählige DDR-Bürger war, eine Art "Doppelleben" zu führen? Waren Angst und Misstrauen in Ihrem Umfeld ständig zu spüren?
Dies lässt sich nur so erklären: Wir waren jung. Wenn man jung ist, ist man auch sehr risikofreudig. Das Risiko, entdeckt und anschließend bestraft zu werden, war mir zumindest schon klar, nur nahm ich dies in Kauf. Misstrauen gegen jedermann bestand, doch es prägte nicht meinen Alttag. Ich konnte dies schon damals genau "filtern" und Freizeit und den mir gestellten Auftrag auseinanderhalten.
Gemeinsam mit Ihrem Freund Frank setzten Sie im Januar 1964 den gefährlichen Plan in die Tat um - in Ihrem Buch beschreiben Sie die dramatischen Geschehnisse während des Fluchtversuches. Ihr Freund schaffte es noch auf den Zug, doch Sie rutschen beim Aufspringen ab und stürzen neben die Gleise. Sie sahen noch, wie Ihr Freund Ihnen vom Zug aus zuwinkte und sich die Zuglichter entfernten. Sie beschreiben dies als den "emotional dramatischsten Moment" während der Flucht. Können Sie noch sagen, was in einem solchen Moment in einem vorgeht?
Es war wie ein Sterben. Fassungslosigkeit und tiefe Ohnmacht. Dieses Gefühl ist heute noch in mir.
Konnten Sie später mit Ihren Freunden über diese Ereignisse sprechen? Haben Sie noch Kontakt zu Frank und Ihren Jugendfreunden, mit denen Sie die Flucht gemeinsam geplant und in die Tat umgesetzt haben?
Mit Frank kann ich bis heute nicht darüber reden. Frank hat unberechtigterweise Schuldgefühle entwickelt, die meiner Meinung nach unbegründet sind. Er kann nicht aus seiner Haut. Zu den anderen Fluchtkameraden besteht bis heute noch Kontakt.
Auf der Flucht vor den Grenzposten verletzten Sie sich beim Sprung über ein Geländer schwer. Nach Ihrem Sturz haben Sie es noch geschafft, sich mit gebrochenen Beinen nach Hause zu schleppen. Sie konnten sich trotz der schweren Verletzung nicht sofort im Krankenhaus behandeln lassen und mussten sich in dieser Notsituation noch gemeinsam mit Ihren Eltern eine Ausrede einfallen lassen, um keinen Verdacht zu erwecken. Konnten Sie damals ahnen, welche Gefahr Ihnen von der Staatssicherheit tatsächlich drohte? Haben Sie damit gerechnet, dass die Briefe Ihrer Freunde aus dem Westen abgefangen werden und Ihnen dies zum Verhängnis werden kann?
Wir waren so naiv, aber wir waren doch so jung. Aus heutiger Sicht war diese Naivität nicht zu überbieten. Im Hinterkopf war mir schon klar, dass bei der Aufdeckung dieser tollen Flucht die Stasi sehr angefressen sein wird, doch so richtig wollte ich über die Konsequenzen nicht nachdenken. Irgendwie, so dachte ich damals, komme ich aus dieser Nummer schon raus. Die Angst, die selbstverständlich in mir aufkam, verdrängte ich. Aus Selbstschutz.
Im zweiten Teil des Interviews, "Grauen im Stasi-Gefängnis", erzählt Karl-Heinz Richter von der schlimmen Zeit in Haft, in der er schwer verletzt Folter, Schikane und endlose Verhöre über sich ergehen lassen musste. Im Jahr 1975 konnte er schließlich die DDR verlassen und ein neues Leben im Westen beginnen.
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