von Silke Bauerfeind
Jedes Jahr werden allein in Deutschland etwa 1400 Kinder mit einer Fehlbildung an den Lippen und am Gaumen geboren - so genannte Lippen-Kiefer-Gaumenspalten gehören zu den häufigsten Fehlbildungen. Sie entstehen bereits in den ersten Wochen der Schwangerschaft und können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Kinder und Jugendlichen leiden oft sehr unter den Reaktionen in der Öffentlichkeit. Deshalb ist es wichtig zu wissen, wie es zu diesen Veränderungen kommt und wie man am besten mit Betroffenen umgeht.
Sicher hast du schon einmal jemanden mit einer großen Narbe oberhalb der Lippen gesehen oder gehört, dass jemand näselnd spricht - also so, als würde man ihm ständig die Nase zuhalten. Oft wurden diese Menschen mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren, die dann zwar behandelt wurde, aber dennoch in gewisser Weise sichtbar bleibt.
Wenn das Baby im Mutterleib heranwächst, bilden sich die Teile des Gesichts zunächst getrennt voneinander aus. Nase, Lippen und Gaumen wachsen dann erst später zusammen. Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt es dabei zu Störungen kommt, können Fehler auftreten, die zu verschiedenen Arten von Spalten an Lippen und am Gaumen führen.
Ganz genaue Kenntnisse über die Ursachen dieser Störung hat man leider noch nicht. Da aber in den letzten Jahrzehnten die Häufigkeit dieser Fehlbildung stark angestiegen ist, konnte man immer mehr Erfahrungen sammeln. Man vermutet inzwischen, dass mehrere Gründe zusammen kommen. Wenn die werdende Mutter zum Beispiel bestimmte Medikamente während der Schwangerschaft einnimmt oder raucht und Alkohol trinkt, kann das eine Rolle spielen. In vielen Fällen hatten aber bereits andere Familienmitglieder diese Fehlbildung. Daher geht man davon aus, dass die Veränderungen auch erblich bedingt sind. Das Zusammenspiel beider Ursachen ist wahrscheinlich.
Welche Arten von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten gibt es?
Man unterscheidet zwischen Spalten, die nur den Gaumen betreffen, und Spalten, die auch die Lippen durchziehen. Die Gaumenspalten verlaufen meist in der Mitte und enden hinten im Rachen. Die anderen Spaltenarten treten an der Seite auf und betreffen manchmal auch beide Seiten des Gesichts.
Hier kennt man zum einen die Lippenspalten, die sich vom Rot der Lippen bis zum Naseneingang ziehen können. Zum anderen gibt es die kombinierten Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, bei der die Spalte im Kiefer zwischen Eckzahn und Schneidezahn verläuft. Nach hinten wird sie dann meist breiter. Diese Formen der Spaltbildung sind gut erkennbar. Daneben gibt es aber auch andere, die nur die unter der Haut liegende Muskulatur betreffen. Von außen betrachtet erkennt man hierbei keine Veränderung.
Wenn die Lippe gespalten ist, kann man dies inzwischen oft bereits während der Schwangerschaft auf Ultraschallbildern erkennen. Die Familien haben dann die Möglichkeit, sich früh auf die besondere Situation einzustellen. Offene Gaumenspaltungen erkennt man normalerweise gleich nach der Geburt. Eine geschlossene Gaumenspaltung fällt aber meistens erst auf, wenn sich das Sprechen in den ersten Lebensjahren des Kindes nicht normal entwickelt.
Das genetisch bedingte "Pierre-Robin-Syndrom" bringt eine meist U-förmige Gaumenspaltung mit sich. Außerdem haben die Kinder einen kleinen Unterkiefer und eine Zunge, die so weit hinten im Rachen liegt, dass sie oft Atemprobleme bekommen. Dieser Gendefekt tritt aber sehr selten auf, nur eines von etwa 15.000 Kindern ist betroffen. Etwa 30 bis 40 Prozent der Kinder, die ein Pierre-Robin-Syndrom haben, leiden zusätzlich am "Stickler Syndrom". Hier haben die Betroffenen eine Bindegewebsschwäche, die dazu führen kann, dass Augen, Ohren, Gelenke, Knochen, Organe und das Herz erkranken. Diese Probleme sind unterschiedlich stark ausgeprägt und treten nicht immer zugleich auf.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Offene, aber auch geschlossene Spaltbildungen müssen behandelt werden. Ein Ziel der Behandlung ist es, die sichtbare Spaltbildung zu beseitigen, damit das Gesicht schöner aussieht. Dies ist für die Betroffenen sehr wichtig, da sie in der Öffentlichkeit von ihren Mitmenschen oft angestarrt werden. Viele haben auch mit Vorurteilen zu kämpfen - weit verbreitet ist zum Beispiel der Glaube, dass Menschen mit so einem Gesicht "geistig zurückgeblieben" oder "dümmer" als andere sein müssten, was natürlich völliger Unsinn ist.
Ein anderes, sehr wichtiges Ziel der Behandlung ist, das Gewebe im Mund und Rachen richtig zusammenzufügen. Damit wird erreicht, dass sich Sprache, Gehör, Schlucken und Kauen normal entwickeln können. Andernfalls könnten Teilbereiche davon ein Leben lang Schwierigkeiten bereiten. Auch die Zahnstellung muss regelmäßig kontrolliert werden, weil der Kiefer und damit auch die Zähne eine andere Ausrichtung haben können. Bei der Behandlung arbeiten viele Spezialisten zusammen, um das beste Ergebnis zu erzielen. Genauso wie der Rest des Körpers, wächst und verändert sich auch das Gesicht im Kindesalter und in der Jugendzeit. Deshalb sind Behandlungen nötig, bis die Betroffenen ausgewachsen sind.
Bei einem Baby mit Gaumenspalte muss gleich nach der Geburt eine "Trinkplatte" (Gaumenplatte) eingesetzt werden. Damit wird erreicht, dass der Mundraum vom Nasenraum abgetrennt wird und Schlucken und Saugen normal möglich sind. Außerdem wird mit dieser Platte der Kiefer stabilisiert und die Zunge in eine normale Position gebracht. Wenn nötig, gehen die Kinder ab etwa vier Jahren zur Logopädie, das ist eine Sprachheilbehandlung.
Eine Lippenspalte wird bei Säuglingen operiert, wenn sie ungefähr fünf bis sechs Monate alt sind und mindestens fünf Kilogramm wiegen. Die Spalte wird geschlossen, so dass der Mund danach unauffälliger aussieht und die Muskeln in der Lippe besser zusammen arbeiten können. Manchmal wird bei dieser Operation auch gleich ein eventuell abstehender Nasenflügel angelegt und ein fehlender Nasenboden geschaffen.
Eine Gaumenspalte wird operiert, wenn das Kind etwa ein Jahr alt ist. Dies ist wichtig, da die Kinder in diesem Alter anfangen, mehrere Wörter beim Sprechen aneinander zu reihen. Sie sollen dabei möglichst nicht durch ihre Gaumenspalte behindert werden. So können sie sich geistig normal entwickeln und haben weniger Probleme, mit anderen Kindern Kontakte zu knüpfen. Im Alter von fünf bis sechs Jahren folgen dann Operationen, bei denen kleine Korrekturen an der Lippe oder am Naseneingang vorgenommen werden.
Ab diesem Alter werden auch oft Zahnspangen verwendet, damit sich der Kiefer langfristig in die richtige Position schiebt. Wenn die betroffenen Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren ausgewachsen sind, werden endgültige Korrekturen an der Nase oder an den Gesichtsknochen und Zähnen vorgenommen. Manche haben über die bereits genannten Fehlbildungen hinaus Probleme beim Atmen, mit dem Gehör oder ihrer Mimik. Außerdem kann es verstärkt zu Hals-, Nasen- und Ohrentzündungen kommen. Daher ist es wichtig, dass während der ganzen Behandlungszeit Ärzte und Therapeuten gut zusammen arbeiten.
Wie man mit Betroffenen umgehen sollte
Ihr habt nun einen Überblick darüber bekommen, wie viele Behandlungen und Operationen sich Kinder und Jugendliche unterziehen müssen, die unter einer Form der erklärten Spaltenbildungen leiden. Sicher könnt Ihr Euch auch vorstellen, dass das mit vielen Sorgen, Ängsten, Schmerzen und auch Selbstzweifeln verbunden ist.
Da man die Fehlbildung oder später die Narben im Gesicht meist deutlich sehen kann, sind die Betroffenen es gewohnt, dass sie mehr gemustert werden als andere. Umso mehr wünschen sie sich, dass sie nicht angestarrt oder gar verspottet, gemieden und ausgegrenzt werden. Vielleicht habt Ihr schon einmal gehört, dass eine Lippenspalte auch "Hasenscharte" oder eine Gaumenspaltung manchmal "Wolfsrachen" genannt wird. Die meisten Menschen, die mit den Fehlbildungen leben, empfinden das verständlicherweise als Beleidigung, man sollte solche Ausdrücke daher nicht verwenden.
Menschen mit Spaltbildungen haben dieselben Wünsche, Bedürfnisse und Hobbies wie andere und sind darin normalerweise auch nicht eingeschränkt. Sie können trotz ihrer Besonderheit liebenswürdige und schöne Menschen sein, die in der Lage sind, ihr Leben selbstständig zu meistern - so wie alle anderen auch. Wenn ihr Fragen zu den Problemen oder der Behandlung habt, solltet ihr offen aufeinander zugehen - das ist meistens der beste Weg.
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