14.12.2005
Hunderte Millionen Kinder gibt es offiziell gar nicht, weil sie nach ihrer Geburt nicht registriert wurden. Diese "unsichtbaren Kinder" haben in Entwicklungsländern keine Rechte: Sie dürfen weder eine Schule besuchen noch später wählen gehen. Stattdessen haben sie meist ein Leben in Armut vor sich. Das Helle Köpfchen hat Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Unicef Helga Kuhn gefragt, wie es dazu kommen kann.
Helles Köpfchen: In Ihrem gerade veröffentlichten Jahresbericht ist von "unsichtbaren Kindern" die Rede. Wie können Kinder unsichtbar sein?
Helga Kuhn: Kinder sind natürlich nicht wirklich unsichtbar, sondern nur für die Behörden in vielen armen Ländern der Welt. Wessen Geburt nicht offiziell registriert wurde und wer keine Geburtsurkunde besitzt, der ist für seinen Staat auch nicht vorhanden.
HK: Wieso ist es so schlimm, keine Geburtsurkunde zu haben?
Kuhn: Ohne Geburtsurkunde ist man offiziell auch kein Staatsbürger. Nicht gemeldete Kinder dürfen dann oft nicht zur Schule gehen, bekommen im Notfall keine medizinische Versorgung und dürfen als Erwachsene nicht wählen gehen. Außerdem bekommen sie auch keinen Pass. Wenn sie trotzdem in ein anderes Land reisen, dürfen sie vielleicht nie wieder zurückkehren.
HK: Warum lassen einige Eltern ihr Baby nach der Geburt nicht einfach offiziell registrieren?
Kuhn: Das hat verschiedene Gründe. Viele Eltern wissen gar nicht, dass es wichtig ist, ihre Kinder zu melden. Wenn die Melde-Behörde dann noch weit weg vom Heimatdorf ist und die Registrierung Geld kostet, verzichten viele Eltern auf die Geburtsurkunde.
HK: Kann man die Geburtsurkunde nicht später noch bekommen?
Kuhn: Das ist in den einzelnen Ländern unterschiedlich geregelt. Auf jeden Fall ist es immer mit sehr viel Mühe verbunden. Deshalb machen wir von Unicef Druck auf alle Regierungen, damit sie eine kostenlose Registrierung aller neugeborenen Kinder überall im Land ermöglichen.
HK: Was passiert mit den "unsichtbaren" Kindern, wenn ihre Eltern bei einem Unglück, an der Krankheit Aids oder in einem Bürgerkrieg sterben?
Kuhn: Die Kinder sind nicht nur für den Staat unsichtbar, sondern auch für die Gesellschaft. Niemand kümmert sich um sie und sie müssen dann versuchen, sich alleine durchzuschlagen.
HK: Können Kinder denn alleine und ohne Hilfe überleben?
Kuhn: In Afrika gibt es immer mehr Haushalte, in denen sechs bis zehn Kinder zusammenleben, nachdem ihre Eltern an Aids gestorben sind. Die Älteren versuchen ihre jüngeren Geschwister mit Betteln oder Arbeiten irgendwie durchzubringen. Andere Kinder flüchten auf die Straße und schlagen sich ganz alleine durch.
HK: Was tut Unicef, um diesen Kindern zu helfen?
Kuhn: Unicef macht zum einen auf das Problem aufmerksam. Denn wenn viele Menschen über die "unsichtbaren Kinder" berichten, dann können sie hoffentlich bald auch nicht mehr von ihren Regierungen übersehen werden. Außerdem versuchen wir in vielen Projekten vor Ort zu helfen. Straßenkinder werden zum Beispiel von Sozialarbeitern besucht oder können in speziell für sie eingerichteten Häusern übernachten und zur Schule gehen. Aber eigentlich wäre es das Beste, wenn sie wieder in ihre Familie zurückkehren könnten - oder sich eine Pflegefamilie vor Ort um sie kümmert.
HK: Wie viele Kinder sind überhaupt "unsichtbar"?
Kuhn: Jedes Jahr werden weltweit 48 Millionen Kinder geboren, die keine Geburtsurkunde bekommen. Die meisten von ihnen leben in Entwicklungsländern. Am traurigsten ist die Situation im südlichen Afrika und in Teilen von Asien. In Bangladesch haben zum Beispiel nur sieben von hundert Kindern eine Geburtsurkunde.
HK: Gibt es dieses Problem ausschließlich in Entwicklungsländern?
Kuhn: Nein, auch in "zivilisierteren" Ländern wie zum Beispiel Russland flüchten immer mehr Kinder vor ihren alkoholabhängigen Eltern auf die Straße. Eine Geburtsurkunde nehmen sie dabei nicht mit - und so gehen sie verloren.
HK: Wenn die Kinder nicht registriert sind, wie kommt Unicef dann auf die Zahl von 48 Millionen jährlich?
Kuhn: Das ist eine gute Frage. Die Zahl ist natürlich geschätzt. Unicef ist ja in allen betroffenen Ländern vor Ort. Dabei sammelt Unicef die offiziellen Daten der Regierungen und vergleicht sie mit den eigenen Erfahrungen. Dazu kommen Informationen anderer Hilfsorganisationen und von Forschungsinstituten. Alle Daten werden verglichen und hochgerechnet. Der Schätzwert zeigt, wie groß das Problem ist, auch wenn die Zahl ungenau ist.
HK: Können die Leser des Hellen Köpfchens auch etwas für diese Kinder tun?
Kuhn: Die "unsichtbaren Kinder" brauchen jemanden, der für sie das Wort ergreift. Sie sind auf Menschen angewiesen, die dafür sorgen, dass ihre Probleme an die Öffentlichkeit kommen und nicht mehr übersehen werden. Kinder und Jugendliche können da sehr viel beitragen. So haben schon über 112.000 Besucher der Unicef-Kinderseite die Aids-Kampagne mit ihrer Unterschrift unterstützt. Auf der Kinderseite von Unicef gibt es außerdem eine ganze Menge Aktionsideen. Wer eine besonders gute Idee hat, kann sich auch als Unicef-Juniorbotschafter bewerben.
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