11.07.2006
Kinder denken völlig anders als Erwachsene. Deshalb haben Alt und Jung manchmal große Probleme, das Verhalten des Anderen zu verstehen. Das ist keine "Binsen-Weisheit", sondern sogar wissenschaftlich bewiesen. Die Teilnehmer der Kinderuni wissen jetzt, weshalb dies so ist und wie sie das mit einem einfachen Experiment selber testen können.
Auch diesmal ist der größte Hörsaal der Mainzer Universität wieder bis auf den letzten Platz gefüllt - obwohl Samstag ist. Doch an diesem Tag hält der Erziehungswissenschafter und Medienpädagoge, Professor Stefan Aufenanger, eine Vorlesung vor Kindern. Es ist Kinderuni-Zeit. Heute geht es darum, dass Kinder anders denken als Erwachsene. An diesem Tag erklärt Professor Aufenanger, woher man das weiß. Und er verrät, weshalb sich Kinder und Erwachsene manchmal nicht verstehen können.
Zu Beginn der Vorlesungen geht es erst einmal den Erwachsenen "an den Kragen". Uni-Mitarbeiter fragen die Eltern die Kinderuni-Teilnehmer: "Was tun Sie beim Denken?" Das können selbst die "klugen" Erwachsenen nicht so einfach beantworten. Die meisten Eltern werden unsicher, rudern mit den Armen und suchen nach den passenden Worten.
Wie man das Denken erforscht
Ein Vater macht sich sofort Gedanken darüber, was wohl der Sinn dieser Frage ist. Er versucht, das Rätsel zu lösen und die perfekte Antwort zu geben. Dabei kam es Professor Aufenanger gar nicht auf die "richtige" Lösung an. Er wollte nur zeigen, wie schwer sich Erwachsene damit tun, selbst solche leichten Fragen zu beantworten. Kinder hätten die Antwort schneller gegeben, ohne lange darüber nachzudenken. Sie hätten auch nicht versucht, den Hintergrund dieser Frage zu ergründen. Natürlich machen sich auch Kinder Gedanken darüber, wie die Welt funktioniert. Je nach Alter sind die Vorstellungen, die wir uns unsere Umwelt machen, jedoch völlig verschieden.
An einem Beispiel wird deutlich, was in den Köpfen jüngerer Kinder vor sich geht. Auf die Frage "Warum sieht der Mond manchmal rund und groß aus und manchmal wie eine Sichel?" geben sie meist Antworten wie "Es gibt zwei Monde, die sich abwechseln“ oder "Die Sonne (oder eine Wolke) schiebt sich vor dem Mond".
Wenn jüngere Kinder glauben, dass es zwei Erd-Monde gibt, ist dies ein Beleg dafür, dass sie noch nicht abstrakt denken können. Das bedeutet, dass sie noch nicht "um die Ecke" denken, sondern sofort die erste mögliche Antwort geben, die ihnen einfällt. Oft denken sie auch sehr egozentrisch - das bedeutet, dass sie glauben, dass sie der Mittelpunkt der Welt seien. Wer zum Beispiel fragt "Wofür gibt es Bäume?" könnte die Antwort bekommen "Damit ich Schatten habe".
Wer hat mehr Saft?
Der Schweizer Wissenschaftler Jean Piaget (1896 bis 1980) beschäftigte sich mit der geistigen Entwicklung von Kindern. Seine Experimente lieferten den eindeutigen Beweis dafür, dass Kinder anders denken als Erwachsene. Einer seiner Versuche ist sehr berühmt geworden. Es lässt sich jederzeit zu Hause wiederholen, sofern die Kinder nicht schon die Lösung kennen. Man braucht dazu bloß zwei Säfte in unterschiedlichen Farben, einige Trinkgläser und ein Kind zwischen vier und acht Jahren.
Als Jean Piagets Mitarbeiterin Alina Szeminska den Versuch im Jahre 1933 zum ersten Mal durchführte, war das fünfjährige Mädchen Madeleine die Testperson. Die Wissenschaftlerin stellte zwei Gläser vor sie, eines war mit blauem und eines mit rotem Saft gefüllt. In beiden Gläsern befand sich exakt die gleiche Menge Flüssigkeit. Es entstand folgendes Gespräch:
Alina: In den Gläsern ist gleich viel Saft. Stimmt das?
Madeleine prüft die Höhe.
Madeleine: Ja.
Alina gießt den Inhalt des Glases mit dem blauen Saft in zwei Gläser.
Alina: Die gehören Renée. Habt ihr immer noch dieselbe Menge zu trinken?
Madeleine: Nein, Renée hat mehr, weil sie zwei Gläser hat.
Alina: Was müsstest du tun, um wieder gleich viel zu haben?
Madeleine: Auch in zwei Gläser umgießen.
Madeleine gießt den Inhalt ihres Glases in zwei Gläser um.
Alina: Habt ihr gleich viel?
Madeleine betrachtet lange die vier Gläser.
Madeleine: Ja.
Alina verteilt Renées blauen Saft auf drei Gläser, den roten von Madeleine auf vier. Jetzt ist Madeleine davon überzeugt, dass sie mehr Saft hat. Als Alina die beiden Flüssigkeiten in das ursprüngliche Glas zurück gießt und sie genau gleich hoch steigen, ist Madeleine verwirrt.
Madeleine: Es ist gleich viel!
Alina: Wie kommt das?
Madeleine: Ich glaube, man hat ein bisschen nachgefüllt. Jetzt ist es wieder gleich viel.
Experiment mit dem Bruder oder der Schwester
Madeleine glaubte, dass sich die Menge der Flüssigkeit von der Anzahl der Gläser abhängt, in denen sie sich befindet. Sie kannte noch nicht die "Mengen-Invarianz", wie Jean Piaget sie nannte. Die Mengen-Invarianz bedeutet, dass die Grundmenge immer gleich bleibt - egal, in wie viele Teile man sie teilt.
Anhand solcher Versuche entwickelte Jean Piaget seine Theorie, wie sich Denken bei Kindern entwickelt. Kinder werden eher von den Dingen geleitet, die sie sehen. Dadurch lassen sie sich leichter täuschen. Hinzu kommt, dass sie sich nur auf eine einzige Sache konzentrieren können. Wenn du einen jüngeren Bruder oder eine jüngere Schwester hast, kannst du das Saft-Experiment auch selber durchführen.
Professor Stefan Aufenanger hat ein Video gezeigt, wie er selber vor 20 Jahren einen ähnlichen Versuch unternommen hat. Die Hauptrolle spielte seine damals fünfjährige Tochter. Oben kannst du dir das Video ansehen. Es zeigt deutlich, dass Kinder und Erwachsene unterschiedlich denken.
Und wofür gibt es denn nun Bäume?
Was können wir mit unserem neuen Wissen anfangen? Lassen sich Konflikte wirklich vermeiden, wenn wir wissen, dass junge und ältere Menschen auf unterschiedliche Weise denken? Vielleicht. Denn jetzt ist klar, dass Kinder nicht dumm sind, nur weil sie nicht auf dieselbe Lösung kommen wie Erwachsene. Sie können nur noch nicht abstrakt denken.
Eine letzte wichtige Information fehlt noch: Was hätten die Erwachsenen auf die Frage geantwortet, wofür es Bäume gibt? Einige hätten kurz überlegt und dann gesagt: "Weil Bäume Stickstoff in Sauerstoff umwandeln, den Menschen und Tiere zum Atmen brauchen." Sehr religiöse Menschen hätten wahrscheinlich geantwortet: "Weil es Gottes Wille ist, dass es Bäume gibt." Aber viele Erwachsene hätten mit Sicherheit sehr, sehr lange überlegt und dann gesagt: "Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich weiß ja nicht einmal, weshalb es die Menschen gibt und weshalb es mich gibt." Und dann hätten sie weiter über diese Frage gegrübelt. Manche Philosophen haben ihr ganzes Leben lang darüber nachgedacht. Wenn man es mit Erwachsenen zu tun hat, kann man selbst bei einfachen Fragen nicht unbedingt mit einer einfachen Antwort rechnen.
Die Kinderuni Mainz geht jetzt bis zum 23. September in die Sommerferien. Danach hält Professor Jürgen Markl vom Institut für Zoologie die Vorlesung "Findet Nemo". Darin geht es darum, welche Tiere im Wasser leben. Besonders interessant dürfte sein, welche eigenartigen Wesen in den vergangenen Jahren tief unten in der dunklen Tiefsee entdeckt worden sind.
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