Im Jahr 1991 ist im italienischen Teil der Ötztaler Alpen eine sensationell gut erhaltene, 5.300 Jahre alte Gletscherleiche gefunden worden. Sie wurde "Ötzi" getauft. Weil die Alpengletscher immer weiter schmelzen, entdecken Bergwanderer und Altertumsforscher immer wieder uralte Fundstücke. Könnte bald auch in Deutschland, der Schweiz oder in Österreich ein "Ötzi" gefunden werden?
Als Ruedi und Ursula Leuenberger aus Thun in der Schweiz im Spätsommer 2003 eine Bergtour durch die Berner Alpen gemacht haben, ist ihnen am Rande eines Gletschers ein kleiner Gegenstand aufgefallen. Das Eis auf dem Berg "Schnidejoch" ist in jenem heißen Sommer so stark geschmolzen, dass der Gletscher jeden Tag einen halben Meter kürzer geworden ist. Ruedi wollte eigentlich schon weitergehen. "Komm, lass das doch liegen", sagte er zu seiner Frau.
Doch Ursula hatte das Gefühl, dass das Eis etwas Besonderes freigegeben hatte. Womöglich eine 100 Jahre alte Gamasche aus Leder, die einst ein Bergsteiger genutzt hatte, damit ihn die Hosenenden nicht beim Klettert störten? Ursula hat das Fundstück in ihren Rucksack gesteckt und ist gemeinsam mit Ruedi weitergewandert. Die vermeintliche Gamasche sollte weder am Wegesrand verfaulen, noch in die Hände von pfiffigen Geschäftemachern fallen, die sie möglicherweise bei eBay versteigert hätten.
Überraschung nach einem Jahr
Später hat das Ehepaar Leuenberger seinen Fund in ein Museum gebracht. Die Experten dort haben Ursula sofort bestätigt, dass sie eine außergewöhnliche Entdeckung gemacht hat. Es handele sich um ein gut erhaltenes Stück Birkenrinde, das eindeutig von Menschen bearbeitet worden ist. Wie alt das Stück war, konnten die Wissenschaftler im Museum jedoch nicht auf Anhieb sagen.
Fast ein Jahr lang haben Ursula und Ruedi Leuenberger danach nichts mehr in dieser Angelegenheit gehört. Bis plötzlich ein Telefonanruf für helle Aufregung gesorgt hat. Ein Mitarbeiter des archäologischen (altertümlichen) Dienstes des Kantons Bern sagte: "Ihr Fundstück ist eine wissenschaftliche Sensation." Es sei fast 5.000 Jahre alt und habe seinem Besitzer als Transport-Behälter für Keile gedient.
5.300 Jahre altes Verbrechen
Der Fund hat bei Ursula, Ruedi und vielen anderen Menschen Erinnerungen an eine Gletschermumie geweckt, die 13 Jahre zuvor in den italienischen Ötztaler Alpen gefunden wurde. Heute geht man davon aus, dass "Ötzi" 45 Jahre alt war, als er in der Kupferzeit ermordet wurde. Ermordet? Richtig, es sieht ganz danach aus, als ob die 5.300 Jahre alte Mumie einst einem Verbrechen zum Opfer gefallen war.
Der Jäger soll damals auf der Suche nach Wild durch die Alpen gestreift sein. Darauf lassen seine Waffen schließen, die er bei sich trug. In seinem Rucksack wollte er vermutlich seine Beute verstauen. Doch dann traf ihn ein Pfeil von hinten in die linke Schulter. Auf seiner Flucht ist er in eine Gletscherspalte gestürzt und gestorben. Ötzis Leiche kann Gerichtsmedizinern auch heute noch Auskunft darüber geben, wie der Jäger aus der Kupferzeit ums Leben gekommen ist. Durch die gut erhaltene Kleidung, Werkzeuge und Waffen konnten die Wissenschaftler außerdem erfahren, wie die Menschen damals gelebt haben.
Nach dem Fund des Birkenholz-Behälters hoffen die Schweizer Archäologen nun, dass sie noch mehr Licht in diese lange vergangene Zeit bringen können. Die Wissenschaftler haben bereits herausgefunden, wo damals eine wichtige Handelsroute zwischen dem heutigen Norditalien und dem Schweizer Mittelland durch die Alpen geführt hat. Wer weiß, vielleicht hat auch "Ötzi" vor der schicksalhaften Begegnung mit seinen Mördern einmal diesen "Schnidejoch-Pass" genutzt, um von den zentralen Alpen in den östlichen Teil zu gelangen.
Reise in die Vergangenheit
Nachdem Ursula und Ruedi Leuenberger den Archäologen (Altertumsforscher) gezeigt haben, wo sie im Jahr 2003 fündig geworden sind, haben die Wissenschaftler am Schnidejoch bereits über 300 weitere altertümliche Dinge aufgesammelt. Die ältesten Teile stammen aus dem dritten und zweiten Jahrtausend vor Christus, aber auch bronzene Gewandnadeln und Schuhnägel aus römischer Zeit hat das Eis inzwischen wieder freigegeben.
Damals wechselten sich auf etwa 2.800 Metern Höhe noch grüne Wiesen und Geröllfelder ab. Erst im 16. Jahrhundert kam es zu einem Temperatursturz in diesem Teil der Alpen, so dass sich dort Gletscher bildeten. Der Pass am Schnidejoch ist vor etwa 500 Jahren total zugefroren, so dass er nicht mehr als Handelsroute genutzt werden konnte. Jahrhunderte lang waren die Bergspitzen im Winter wie im Sommer von einer dicken Eis- und Schneeschicht überzogen.
"Es wird noch Überraschungen geben"
Der Leiter der Abteilung Ur- und Frühgeschichte beim Archäologischen Dienst in Bern, Peter Suter, ist davon überzeugt, dass der seit einigen Jahren schmelzende Gletscher bald weitere Überraschungen ans Tageslicht fördern wird. Denn das gesamte Eisfeld könnte schon im kommenden Sommer wegtauen. Im Moment liegt noch über ein Meter Schnee auf dem Eis und schützt die letzten Reste des Gletschers.
Sobald der Schnee im Frühjahr geschmolzen sein wird, werden die Archäologen aus Bern wieder vor Ort sein. "Einen zweiten Ötzi werden wir aber leider mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dort nicht mehr finden", erklärt Peter Suter. Denn dafür sei die Eisschicht schon jetzt zu dünn. "Einen gefrorenen Eismann hätten wir wohl schon im vergangenen Jahr entdeckt." Dennoch ist es gut möglich, dass bald irgendwo in den Alpen eine zweite jahrtausendealte Mumie auftauchen wird.
Woran es überhaupt liegt, dass die Alpengletscher schrumpfen und verschwinden und welche Folgen dies für die Natur hat, erfährst du im zweiten Teil (auf "Weiter" klicken).
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