von Luisa - 01.11.2006
Etwa fünf Millionen Frauen und Männer in Deutschland leiden an Essstörungen, davon haben 3,7 Millionen gefährliches Untergewicht. Etwa 80 bis 90 Prozent der Fälle von Magersucht und Bulimie treten bei Mädchen und Frauen auf. 17,6 Prozent der Mädchen zwischen elf und 15 Jahren sind untergewichtig. Zum Vergleich, gerade mal 5,9 Prozent ihrer Altersgenossen leiden an Übergewicht. Jedes zweite normal- und untergewichtige Mädchen findet sich noch zu dick. Bereits jede dritte Schülerin zwischen zwölf und 20 Jahren leidet an Frühformen von Essstörungen. 90 Prozent der weiblichen Teenager wollen abnehmen. Zehn Prozent aller Magersüchtigen sterben an ihrer Krankheit.
Warum? Eine interessante Frage. Meine Freundin sagte mal zu mir: "Jedes Mädchen findet sich hässlich, das ist ganz normal!" Und ich glaube, sie sagt die Wahrheit. Einige Mädchen in meinem Alter blicken kategorisch nicht in den Spiegel, bloß nicht dem Grauen in die Augen blicken! Überhaupt empfinden sie sich als das hässlichste Geschöpf auf der Erde. Alle lachen ständig hinter seinem Rücken, weil man heute wieder so schrecklich aussieht. Falls es doch einmal Lob für irgendein Outfit geben sollte, ist das nur Heuchlerei, denn richtig rein passen tut man sowieso nicht. Dafür ist man noch viel zu fett!
Eine besondere Anfälligkeit für Magersucht lässt sich bei Mädchen zwischen elf und 20 Jahren feststellen. Etwa 70 Prozent der Krankheitsfälle tauchen in diesem Alter auf. Und ich gebe zu, würde mir jemand zeigen, wie ich ohne viel Aufwand und Magenknurren ein wenig abnehmen könnte: Vielleicht würde ich es auch tun. Ich bin nicht zu dick, eher zu dünn, das weiß ich, und trotzdem... Wieso? Ich glaube nicht, dass es DEN Auslöser für Magersucht gibt. Es sind viele kleine Puzzleteile, die jemanden dazu bringen, magersüchtig zu werden. Ein Auslöser sind zum Beispiel die Menschen um den Betroffenen herum, oder eher gesagt, die fehlenden Menschen. Im Leben eines Teenagers gibt es im Allgemeinen drei Gruppen von Menschen.
Die 1. Gruppe: Die eigenen Freunde. Sie sind die Personen, mit denen man im alltäglichen Leben redet. Doch Gefühle vertraut man ihnen oft nicht an. Die gehen sie nichts an. Die können sie bestimmt nicht nachvollziehen. Dafür führen viele von ihnen ein viel zu perfektes Leben, das hört man ja täglich in so manchen belanglosen Gesprächen.
2. Gruppe: Die anderen. All jene Menschen, die, wenn sie einen überhaupt ansehen, dies oft sehr abschätzend tun. Zu dieser Gruppe gehören die meisten Altersgenossen, die nicht zu den Freunden zählen, all die, die keine Skrupel davor haben, sich über einen lustig zu machen.
Und schließlich gibt es da die 3. Gruppe: Die Eltern. Forscher sagen: "In der Pubertät nabelt sich der Jugendliche von seinen Eltern ab." Ich glaube nicht, dass man das so allgemein sagen kann. Nicht nur der Jugendliche entfernt sich, sondern auch die Eltern entfernen sich von ihrem Kind. In der Natur ist es doch auch so: Die Mutter verstößt irgendwann ihr Kind. Zuerst bringt sie ihm bei, zu überleben, und dann sieht es nur noch als Artgenossen, nicht aber als eigenes Kind, und es muss alleine zurechtkommen. Wieso sollte das also bei uns Menschen komplett anders sein? Wir sind doch schließlich auch nur Tiere mit einem etwas größeren Gehirn, bezogen auf unsere Körpermasse. Die Eltern lieben ihr Kind noch immer, aber sie lieben es nicht mehr auf die Art, wie sie es zum Beispiel als kleines Baby geliebt haben. "In der Pupertät fängt der junge Mensch an, Sachen kritisch zu hinterfragen, auch das Tun seiner Eltern", so Experten. Ich glaube, dass in dieser Zeit aber auch Eltern anfangen, kritisch über ihre Kinder nachzudenken. Als das Kind noch klein war, fanden sie fast alles toll, was es gemacht hat. Jetzt wird vieles als selbstverständlich angesehen, Fehler werden einem noch Tage später vorgeworfen. Was früher noch süß war, finden sie jetzt schlecht oder gar peinlich. Wer bleibt dem Jugendlichen also noch? Keiner. Und das ist das Problem.
In der vielleicht schwierigsten Zeit seines Lebens ist der junge Mensch total auf sich gestellt. Man fühlt sich nicht nur von irgendwelchen neuen Gefühlen etwas verwirrt. So ist das nicht. Man fühlt sich oft unendlich hilflos. Man darf dies aber nicht zeigen, sowieso darf man nie seine Gefühle zeigen. Bloß immer die Fassade aufrecht erhalten, nie zu viel von sich preisgeben. Man sucht ständig Bestätigung in seinem Tun. Stößt immer wieder gegen eine ungewohnte Ablehnung, die man von früher nicht kannte. Früher, als die Welt noch heil war. Was daraus folgt, ist Angst, eine ohnmächtige Angst, mit der man nicht umzugehen weiß.
Ein anderes Problem ist der Druck, den die Außenwelt auf einen ausübt. Nur, wer perfekt ist, ist ein vollkommener und anerkannter Mensch. Man muss perfekt in der Schule sein, man muss perfekte Freundschaften führen und man muss perfekt aussehen. Schon kleinen Kindern wird ein bestimmtes Idealbild von einem Menschen regelrecht eingetrichtert. Auf großen Werbeplakaten sehen sie elfenähnliche Frauen mit elend langen Beinen, einer Haut wie der einer Porzelanpuppe und so wenig Fett am Körper, dass man die Rippen durch das dünne Kleid hindurch sehen kann. Nur wer so aussieht, ist schön, wird von anderen anerkannt und kann erfolgreich sein. Und nach diesem Inbegriff der Vollkommenheit bewerten wir uns und die Menschen in unserer Umgebung, auch wenn wir es nie zugeben würden. Das Schönheitsideal, das uns die Medien und die Werbebranche vorgeben, können aber viele Jugendliche nicht erfüllen. Nicht jede Frau ist 1,75 Meter groß und sieht aus wie eine Barbiepuppe.
Der Druck, dem sie sich größenteils auch selbst aussetzen, ist dadurch enorm und der Wunsch, nicht länger "das hässliche Entlein" zu sein, oft übermächtig. Wie also der hoffnungslosen Situation entkommen? Die Stars machen es uns vor. Größe 0 zu tragen ist angesagt, dann ist man begehrenswert und alle mögen einen. Die Jugendlichen machen es nach und hungern sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode. Ich finde es nicht verwunderlich, dass in einer Welt, in der Models mit Orangensaft getränkte Watte essen, um nicht zuzunehmen, viele Mädchen, aber auch immer mehr Jungen, ihnen nacheifern. Ich glaube, Magersucht ist ein verzweifelter Hilfeschrei nach Anerkennung, danach, nicht allein gelassen und übersehen zu werden. Man will endlich der vermeintlich "perfekte Mensch" sein, koste es was es wolle.
Ich kann mir nicht vorstellen, magersüchtig zu werden. Die Überwindung, die es mich kosten würde, gar nichts mehr zu essen, wäre einfach viel zu groß. Aber ich verstehe, wie es dazu kommen kann. Dieser Artikel soll auf keinen Fall dazu anregen, auf die Magersucht als "Problemlöser" zurückzugreifen. Das ist sie ganz bestimmt nicht. Gerade die Spätfolgen von Magersucht und Bulimie sind extrem gefährlich. Bei etwa 30 Prozent der Betroffenen wird die Magersucht sogar chronisch, also unheilbar.
Dieser Artikel soll eher zeigen, warum es immer mehr jungen Leuten so einfach fällt, gar nichts mehr zu essen. Er soll zeigen, dass die meisten jungen Menschen nicht die unberührbaren Geschöpfe sind, die sie so oft versuchen, darzustellen. Vielmehr sind sie verletzliche Wesen, die nicht wissen, wie sie mit dem Leben und den manipulierenden Einflüssen der Umwelt umgehen sollen. Sich nach einem "Fels in der Brandung" sehnen, nach irgendjemanden, der ihnen sagt, was denn nun richtig und was falsch ist. Die diesen Jemand aber so gut wie nie finden.
Luisa, 01. November 2006
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