von Björn Pawlak - 29.05.2010
Am Morgen des 10. April 2010 ereignete sich nahe der russischen Stadt Smolensk bei dichtem Nebel ein Flugzeugabsturz. Das verunglückte Flugzeug war eine polnische Regierungsmaschine samt Staatspräsident Lech Kaczyński - alle 96 Personen an Bord kamen zu Tode. Nun steht das Land vor dem politischen Neuanfang: In drei Wochen wird der neue polnische Präsident gewählt.
Zu den Opfern des Flugzeugabsturzes zählen neben Polens Staatspräsidenten seine Ehefrau Maria Kaczyńska, Vertreter des Parlaments und hohes Militär. Polen muss sich nun politisch neu aufstellen. Am 20. Juni 2010 soll die Präsidentschaftswahl stattfinden.
Noch immer ist unklar, warum sich das Unglück überhaupt ereignet hat. Angeblich hat der Pilot der polnischen Maschine die Anweisung der russischen Fluglotsen missachtet, wegen des Nebels in einer anderen Stadt zu landen.
Es wäre aufgrund des schlechten Wetters und der technischen Einrichtung des Flughafens von Smolensk naheliegend gewesen, in der weißrussischen Hauptstadt Minsk oder in der russischen Hauptstadt Moskau zu landen. Ein Ausweichen hätte aber bedeutet, dass die Regierungsvertreter ihren Termin in Smolensk verpassen. Die Flugschreiber wurden gefunden und ausgewertet. Das Flugzeug kam beim Landeanflug etwa 300 Meter vom Kurs ab, streifte einen Antennenmast und Bäume, bevor es auf dem Boden aufprallte und explodierte.
Zur Trauerfeier in Warschau waren hohe Staatsvertreter aus aller Welt eingeladen. Viele konnten nicht kommen, weil der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull den Flugverkehr in großen Teilen Europas lahm legte. Hunderttausende waren in der Warschauer Innenstadt versammelt, als der Sarg des Präsidenten noch einmal gezeigt wurde. Man wollte von allen Opfern des Absturzes Abschied nehmen. Nun ist der Blick nach vorne gerichtet - gesucht wird ein neuer Staatspräsident.
Gedenkfeier war Grund für das Treffen in Smolensk
Vor 70 Jahren war es zum "Massaker von Katyn" gekommen. Die verunglückten polnischen Staatsvertreter waren auf dem Weg zu Feierlichkeiten in Smolensk, die zur Erinnerung an das Massaker stattfanden. Das Massaker von Katyn war eine im Jahr 1940 von sowjetischer Seite auf Anweisung Stalins durchgeführte Ermordung von zahlreichen Offizieren, Polizisten, Intellektuellen und andere "Eliten". Als Elite - vom lateinischen Wort "electus", das bedeutet "auserlesen" - bezeichnet man die herrschenden und einflussreichen Gesellschaftskreise.
Im Zweiten Weltkrieg wurde Polen sowohl vom nationalsozialistischen Deutschen Reich als auch von der Sowjetunion militärisch besetzt ("Hitler-Stalin-Pakt"). Das Massaker belastet noch heute die Beziehung zwischen Polen und Russland. Die russische Regierung weigert sich noch immer, die Opfer von Katyn als Opfer des stalinistischen Terrors anzuerkennen.
Im März 2010 hatte der russische Premierminister Wladimir Putin eine gemeinsame Gedenkveranstaltung der Polen und Russen im Wald von Katyn vorgeschlagen. Deswegen vereinbarte er mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk ein Treffen am 7. April 2010. Lech Kaczyński, der als scharfer Kritiker Russlands galt, war zu diesem Treffen nicht eingeladen. Er und die anderen Passagiere der verunglückten Regierungsmaschine hatten aber einen anderen Termin in Katyn - der "Polnischen Rat zum Schutz des Gedenkens an Kampf und Martyrium" hatte eine zusätzliche Gedenkveranstaltung organisiert.
Reaktionen in Polen
Ein Tag nach dem Unglück überführt man die sterblichen Überreste von Lech Kaczyński nach Polen. Der Sarg wurde in der Kapelle des Präsidentenpalastes aufgebahrt. Vor dem Präsidentenpalast hatten sich Tausende von Menschen versammelt, um auf den Leichenwagen mit dem Sarg Kaczyńskis zu warten. Landesweit fanden Gottesdienste statt, die teilweise auf Großbildleinwänden übertragen wurden.
Bei den polnischen Staatsbürgern herrscht nun Sorge über die Regierungsfähigkeit ihres Landes. Viele Menschen sind auch deshalb so betroffen, weil das Unglück die Erinnerung an die schlimmen Ereignisse von vor 70 Jahren geweckt hat. Auch damals war ein großer Teil der Elite gleichzeitig zu Tode gekommen.
Kaczyński war Präsident seit 2005
Lech Kaczyński gehörte der als konservativ und nationalistisch geltenden Partei "Recht und Gerechtigkeit" an. Sein Zwillingsbruder Jaroslaw Kaczyński war zwischenzeitlich Premierminister, so dass die beiden Brüder die beiden wichtigsten politischen Ämter besetzten. Die Kaczyńskis schlugen beide sehr kritische Töne in Richtung Russland und teilweise auch in Richtung Deutschland an. Das war auch ein Grund dafür, dass Kaczyński als Staatspräsident von Russland nicht zur offiziellen Gedenkfeier in Smolensk eingeladen wurde.
Außenpolitisch ist Polen nach dem Ende des Kalten Kriegs stark an den USA orientiert, die man als neue "Schutzmacht" empfindet. Mit Russland hatte es teilweise auch Probleme gegeben, weil es in den USA zur Regierungszeit von George W. Bush die Idee gab, ein Raketenabwehrsystem in Polen zu stationieren. Das Programm wurde von den USA und Polen verteidigungspolitisch begründet, von russischer Seite jedoch als Bedrohung wahrgenommen.
Mit Deutschland gab es auf politischer Ebene zur Regierungszeit Kaczyńskis einige Probleme, weil man über die Weiterentwicklung Europas unterschiedlicher Ansicht war. Außerdem hat Deutschland gemeinsam mit Russland den Bau einer Gaspipeline durch die Ostsee geplant, um bei russischen Öl- und Gaslieferung Polen zu umgehen. Es gab auch Streit um ein in Berlin vom deutschen "Bund der Vertriebenen" geplantes "Zentrum gegen Vertreibungen".
Neuwahlen am 20. Juni 2010
Die sterblichen Überreste von Lech Kaczyński und seiner Ehefrau sind derweil in der Burg Wawel in Krakau beigesetzt worden. Dieser Ort ist letzte Ruhestätte für zahlreiche polnische Könige und Nationalhelden. Der Ort der Beisetzung ist in Polen umstritten - normalerweise ist dies nicht der Ort, polnische Präsidenten zu beerdigen.
Bis auf weiteres ist der Parlamentsvorsitzende Bronislaw Komorowski zum Übergangspräsidenten berufen worden. Die Neuwahlen sollen am 20. Juni 2010 stattfinden. Ein möglicherweise notwendiger zweiter Wahlgang ist für den 4. Juli geplant. Ursprünglich sollte die Wahl erst im Herbst dieses Jahres stattfinden - Kaczyńskis Chancen, im Amt bestätigt zu werden, wurden als schlecht eingestuft.
Komorowski, der wie Ministerpräsident Tusk der Partei "Bürgerplattform" angehört, wird bei der Wahl antreten und gilt als aussichtsreicher Kandidat. Auch Lech Kaczyńskis Zwillingsbruder Jaroslaw wird sich um das Amt des Staatspräsidenten bewerben. Weitere Kandidaten sind Grzegorz Napieralski von der "Demokratischen Linksallianz" und Waldemar Pawlak von der "Bauernpartei". Im Wahlkampf wird die Aufklärung des Flugzeugabsturzes von Smolensk und der Umgang mit den Geschehnissen ein alles überschattendes Thema bleiben.
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