Autismus - Teil 2

Teil 2 von 2

von Silke Bauerfeind - 01.04.2013

Keine geistige Behinderung

Auch wenn sie sich manchmal für uns seltsam verhalten und vielleicht auch nicht sprechen, sind Autisten nicht weniger intelligent als andere. Sie haben ihre ganz eigenen Stärken und Schwächen - zum Beispiel mögen viele von ihnen den Umgang mit Zahlen, das muss aber nicht automatisch so sein. (Quelle: Helene Souza / pixelio.de)

Man geht inzwischen davon aus, dass es bei Menschen mit Autismus verhältnismäßig genauso viele Menschen mit einer geistigen Behinderung gibt wie beim Rest der Bevölkerung auch. Auch wenn sie sich manchmal für uns seltsam verhalten und vielleicht auch nicht sprechen, sind Autisten nicht weniger intelligent als alle anderen.

Hier ist es oft erstaunlich und für uns schwer zu verstehen, dass ein Mensch mit Autismus zum Beispiel sehr gut in Mathe oder Englisch oder auch einem anderen Fach ist, aber es nicht schafft, sich allein die Schuhe zuzubinden oder den Schulweg ohne Hilfe mit dem Bus zu bewältigen. Es gibt erwachsene Autisten, die zum Beispiel Physik studieren, sich aber nicht selbstständig ein Brot schmieren können. Vielleicht könnt ihr euch vorstellen, dass es nicht einfach ist, mit diesen Einschränkungen zu leben und dass es auch frustrierend ist, wenn man deshalb ausgelacht oder als dumm bezeichnet wird. Es ist bei den meisten Menschen mit Autismus einfach so, dass sie bei manchen alltäglichen Dingen immer auf Hilfe angewiesen sein werden, aber trotzdem normal intelligent sind und auch ein glückliches Leben führen können.

Manchmal haben Autisten allerdings noch zusätzlich eine Behinderung, die zu anderen Besonderheiten, Problemen oder Beeinträchtigungen führen kann. So haben sie in einigen Fällen zum Beispiel Epilepsie oder bestimmte genetische (also erblich bedingte) Syndrome wie das Rett-Syndrom, das Angelman-Syndrom oder das fragile X-Syndrom. Diese genetischen Erkrankungen äußern sich unterschiedlich und müssten in eigenen Beiträgen genauer beschrieben werden.

Nicht unbedingt hochbegabt

Es hält sich das Gerücht, dass alle Autisten irgendetwas ganz besonders gut können und zum Beispiel Genies in Mathe sind. Es gibt wirklich Autisten, auf die das zutrifft, aber das sind Ausnahmen. (Quelle: Jörg Willecke / pixelio.de )

Es hält sich auch das Gerücht, dass Autisten irgendetwas ganz besonders gut können, Genies in Mathe sind oder Landkarten und Telefonbücher auswendig lernen. Es gibt wirklich Autisten, auf die das zutrifft, aber das sind Ausnahmen. Sie zählen zu den "Inselbegabten" oder "Savants" (englisch für "Wissende") - so nennt man Menschen mit verschiedenen so genannten Entwicklungsstörungen oder Behinderungen, die in einem speziellen Teilbereich stark überdurchschnittlich talentiert sind.

Da über ihre besonderen Fähigkeiten im Zusammenhang mit Autismus in den Medien immer wieder berichtet wird und der Film "Rain Man" sehr bekannt ist, in dem ein Autist mit einer Inselbegabung die Hauptrolle spielt, entsteht der Eindruck, dass das typisch für Autisten wäre. Das ist aber nicht der Fall: Menschen mit Autismus haben - wie gesagt - meist eine ganz normale Intelligenz, so wie andere auch. Ebenso wie in der übrigen Bevölkerung gibt es unter ihnen aber auch außergewöhnliche Talente und Hochbegabte. Ein besonderes Talent vieler Autisten ist zum Beispiel damit verbunden, dass sie auf eine andere Art sehen als wir und ihnen deshalb auch andere Sachen auffallen, die Nicht-Autisten oft verborgen bleiben. Es kann eine große Bereicherung für alle Menschen sein, wenn Autisten durch ihren besonderen Blickwinkel Lösungswege finden, die andere nicht erkennen können.

Autisten und Nicht-Autisten leben in derselben Welt

Autisten und Nicht-Autisten leben alle in derselben Welt, nur jeder nimmt sie auf seine Art und Weise wahr. Es stimmt auch nicht, dass Autisten im Allgemeinen keinen Kontakt zu anderen Menschen haben wollen. (Quelle: melodi2 / stock.xchng)

Manchmal wird gesagt, dass Autisten in einer anderen, eigenen Welt leben. Das vermittelt einen falschen Eindruck, denn natürlich leben wir alle in derselben Welt, nur jeder nimmt sie auf seine Art und Weise wahr. Es stimmt auch nicht, dass Autisten im Allgemeinen keinen Kontakt zu anderen Menschen haben wollen. Vielleicht wirkt es manchmal so, wenn sich ein Mensch mit Autismus oft zurückzieht, überhaupt nicht oder nur wenig spricht. Das muss aber nicht bedeuten, dass er seine Mitschüler oder Mitmenschen nicht mag oder nichts mit ihnen zu tun haben möchte.

Um Missverständnissen vorzubeugen, wäre es schön, wenn ihr das Gespräch mit jemandem sucht, der "anders" ist und den ihr nicht versteht. Vielleicht ist es manchmal besser, einen Tag abzuwarten und dann zu fragen, wie ein Satz oder ein bestimmtes Verhalten gemeint war, das ihr nicht verstehen konntet. Der zwölfjährige Autist Peter sagt: "Mein größter Wunsch ist, dass mich mal jemand fragt, ob wir was zusammen machen wollen. Ich selbst traue mich nicht mehr, weil viele über mich lachen."

Wie entsteht Autismus?

Man geht davon aus, dass bei Autisten Informationen im Gehirn anders verarbeitet werden als bei anderen Menschen. Hier sieht man, dass bei einer Bewegungsaufgabe bei Autisten andere Hirnregionen genutzt werden (gelb markiert) als bei anderen Testpersonen (blau). (Quelle: Ralph-Axel Müller, Wikimedia Commons (CC BY 2.5) )

Vor einigen Jahren ging man noch davon aus, dass Autismus sehr selten vorkommen würde. Heute spricht man davon, dass etwa vier bis sieben von 1.000 Menschen Autisten sind. Man ist sich nicht darüber einig, ob die Anzahl der Autisten zugenommen hat oder ob Ärzte und Therapeuten inzwischen besser über Autismus informiert sind und diesen daher häufiger erkennen.

Früher dachte man, dass Menschen mit Autismus schlecht erzogen worden wären oder gefühlskalte Mütter hätten. Mittlerweile weiß man, dass das Unsinn ist und die Ursachen für die veränderte Wahrnehmung ganz woanders liegen. Man geht davon aus, dass es verschiedene Gründe gibt, die zusammenkommen müssen, damit sich ein so genanntes autistisches Syndrom entwickelt. Vermutlich spielt eine bestimmte Veränderung bei den Erbanlagen eines Menschen (man spricht von der "genetischen Disposition") eine Rolle. Dafür spricht eventuell, dass etwa vier mal so viele Jungen von Autismus betroffen sind wie Mädchen. Das alleine führt aber noch nicht automatisch zum Autismus. Dafür sind noch weitere Einflüsse nötig, über die sich die Mediziner im Einzelnen noch nicht einig sind.

Manche sind der Auffassung, dass die zunehmende Vergiftung der Umwelt und damit der Lebensmittel und der Luft eine Rolle spielen. Andere machen Entzündungen im Körper, von denen man nicht immer selbst etwas bemerkt, für das Auftreten von Autismus verantwortlich. Auch manche Impfungen oder Darmerkrankungen stehen im Verdacht, Autismus auslösen oder begünstigen zu können. Wiederum andere Wissenschaftler beschreiben bei Autisten veränderte neurologische (die Nerven betreffende) Verknüpfungen im Gehirn. Das bedeutet, dass manche Informationen im Gehirn von Autisten anders verarbeitet werden, sozusagen andere Wege gehen und sich nicht in der gleichen Art und Weise miteinander verbinden, wie das bei anderen Menschen der Fall ist. Das könnte unter anderem der Grund dafür sein, dass Menschen mit Autismus anders und "synästhetisch" wahrnehmen.

Autismus ist keine Krankheit

Man erkennt Autismus nicht äußerlich. Bei manchen fällt er schon sehr früh im Alter zwischen einem und drei Jahren auf, bei anderen bemerkt man autistische Verhaltensweisen erst während der Schulzeit. (Quelle: Andwhatsnext, en.wikipedia (CC BY-SA 3.0) )

Menschen mit Autismus sind nicht krank. Ihr wisst jetzt, dass sie die Dinge in unserer Welt anders wahrnehmen als ihre Mitmenschen. Bei manchen Autisten fällt das schon sehr früh im Alter zwischen einem und drei Jahren auf, bei anderen bemerkt man autistische Verhaltensweisen erst später während der Schulzeit. Man kann dieses Anderssein nicht heilen und viele Autisten, die sich darüber Gedanken machen, wollen das auch gar nicht, weil der Autismus ein Teil ihrer Persönlichkeit ist. Wenn sie keine Autisten mehr wären, dann wären sie nicht mehr dieselben Menschen.

Trotzdem kann und sollte man dort, wo Schwierigkeiten auftreten, Hilfestellungen bieten. Autisten nehmen diese Unterstützung auch gerne an, weil sie sonst viele Dinge in ihrem Alltag nicht schaffen würden oder überfordert wären. Manche lernen in Therapien, mit alltäglichen Situationen wie Einkaufen, Busfahren, Gespräche führen, Zähneputzen und so weiter zurecht zu kommen. Sie wollen möglichst selbstständig werden und nicht immer Angst vor "Overloads", plötzlichen Berührungen und Veränderungen haben. Auch möchten sie, dass sie von anderen verstanden werden und umgekehrt besser verstehen, was in ihren Mitmenschen vorgeht. Dabei können bestimmte Strukturen und Gruppenübungen helfen, bei denen man zum Beispiel lernt, das Gesagte der anderen und deren Mimik richtig zu deuten.

Einige Autisten brauchen ein Leben lang Hilfe und Unterstützung, können aber trotzdem ein sehr glückliches Leben führen. Wichtig ist, dass man sie dabei nicht wie kranke Menschen behandelt, sondern ihnen mit Freundlichkeit, Verständnis und Respekt begegnet.

Auch Autisten haben gerne Freunde

Autisten ziehen sich häufig zurück, weil es Missverständnisse gibt oder Situationen sie aufgrund ihrer anderen Wahrnehmung überfordern. Doch auch sie wünschen sich Kontakt zu anderen Menschen und haben gerne Freunde. (Quelle: lusi - sanja gjenero / stock.xchng)

Autisten haben häufig nur sehr wenige Freunde. Viele denken, dass Autisten grundsätzlich lieber allein sein wollen, weil sie sich oft zurückziehen. In Wirklichkeit passiert dieser Rückzug aber meistens, weil es Missverständnisse gibt oder Situationen sie aufgrund ihrer anderen Wahrnehmung überfordern. Autisten freuen sich und sind traurig wie alle anderen auch, sie zeigen es nur anders oder manchmal auch gar nicht.

Menschen mit Autismus brauchen und wollen kein Mitleid, sondern wünschen sich, dass sie in ihrem Anderssein akzeptiert werden. So wie sie versuchen, in unserer lauten und schnellen Welt zurechtzukommen, wäre es schön, wenn sich ihre Mitmenschen bemühen, sie zu verstehen und kennenzulernen. Es kann sehr spannend sein, sich auf eine andere Form der Kommunikation einzulassen, zum Beispiel die Gebärdensprache zu lernen oder sich per iPad oder Talker mit seinem Gegenüber zu unterhalten - oder auch die eigene Art zu sprechen zu hinterfragen. Die daraus entstehenden neuen Sichtweisen auf viele Dinge in der Welt bereichern unser aller Leben und machen es bunter. Denn wir sind alle anders und gleichberechtigt, egal ob Autist oder nicht.

Jeder Mensch ist anders - und jeder Autist ist anders

Wir alle sind einzigartig, auch auch jeder Autist unterscheidet sich von anderen. Im Austausch mit autistischen Menschen eröffnen sich genauso Nicht-Autisten ganz neue Sichtweisen auf viele Dinge in der Welt, die unser aller Leben bereichern und es bunter machen. (Quelle: JOTZO JÜRGEN / pixelio.de )

Allen Autisten gemeinsam ist also eine mehr oder weniger andere Wahrnehmung, die meist zur Folge hat, dass sie sich anders verhalten und mitteilen. Dies führt oft zu Missverständnissen auf beiden Seiten, die man am besten klären kann, wenn man versucht, mit dem anderen zu sprechen und nachzufragen, warum etwas in einer bestimmten Art und Weise ist, warum etwas gesagt oder getan wurde und wie man sich vielleicht helfen kann. Wenn der Autist selbst nicht spricht, ist meist ein Elternteil oder ein Betreuer dabei, den man jederzeit freundlich fragen kann.

Wichtig ist noch einmal zu betonen, dass die hier beschriebenen Verhaltensweisen nicht immer und nicht auf alle Autisten zutreffen. Außerdem sind es nur Beispiele, die noch zahlreich mit den Erfahrungen von Menschen mit Autismus ergänzt werden könnten. Vielleicht liest hier auch der ein oder andere Autist mit und denkt: "Warum wurde nicht noch dies oder jenes geschrieben?", "Ich habe noch ein wichtiges Beispiel" oder "Mir geht es manchmal so und so". Dann scheut euch nicht, es in den Kommentaren anzumerken oder an die Redaktion zu schreiben. Man könnte eure Erfahrungen in einem weiteren Beitrag ergänzen - und wahrscheinlich auch ein dickes Buch darüber schreiben. :-)

Buchtipps:

Es gibt Menschen mit Autismus, die hilfreiche Bücher mit sehr interessanten Titeln geschrieben haben. Hier sind einige Beispiele:

- "Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing" von Nicole Schuster
- "Buntschatten und Fledermäuse" von Axel Brauns
- "Elf ist freundlich und Fünf ist laut" von Daniel Tammet
- "Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone" von Mark Haddon
- "Tomaten gehören nicht auf die Augen" von Kristin Behrmann und Hajo Seng

Es gibt natürlich auch noch weitere Bücher, die hier nicht alle aufgeführt werden können. Nach allem, was ihr bisher in diesem Beitrag über Autismus lesen konntet, wundern euch diese Buchtitel wahrscheinlich gar nicht mehr so sehr, sondern machen vielleicht neugierig darauf, noch mehr zu erfahren.

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letzte Aktualisierung: 01.04.2013

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