von Antje Leser
Er war der beliebteste und schlaueste Sagenheld der Griechen. Als König von Ithaka, einer griechischen Insel in der Ägäis, kämpfte er der Sage nach gegen Troja. Seiner List verdankten die Griechen nach zehnjähriger Belagerung den Sieg. Doch bis er zu seiner Frau Penelope und seinem Sohn Telemachos zurückkehren konnte, vergingen weitere zehn Jahre. Die Sage berichtet, dass er und seine Gefährten es sich mehrfach mit den Göttern verscherzten und diese daraufhin eine Heimkehr verhinderten. Auch heute noch ist der Begriff der "Odyssee" in vielen Sprachen Sinnbild für ein beschwerliches Unterfangen oder eine Reise mit zahlreichen Hindernissen.
Die antike Erzählung um den listenreichen Seefahrer Odysseus stammt aus der Feder des griechischen Dichters Homer aus dem 8. Jahrhundert vor Christus. Homer hatte bereits die Geschichte um die Zerstörung Trojas - die "Ilias" - verfasst. Jetzt sollte es eine Fortsetzung geben, die in insgesamt 24 Gesängen bestehend aus ganzen 12.200 Versen erschien. Der Aufbau der Geschichte ist ziemlich kompliziert, denn wie jeder gute Erzähler möchte auch Homer die Spannung stets aufrecht erhalten. Daher arbeitet er mit Rückblenden in die Vergangenheit, Einschüben oder Handlungen, die nebeneinander herlaufen.
Antike Erzählungen wie die Odyssee werden auch Epen genannt. Sie wurden mündlich weitergegeben und erzählten von geschichtlichen Ereignissen oder mythologischen und märchenhaften Handlungen. Außerdem wurden die Dichtungen in Versen niedergeschrieben - das klassische Versmaß der griechischen Epen war der "Hexameter", in dem auch die Irrfahrten des Odysseus erzählt werden. Vorgetragen und weitergegeben wurden sie von wandernden Sängern, den so genannten "Rhapsoden". Zur damaligen Zeit konnten nämlich die wenigsten Menschen lesen und schreiben und so freute man sich über die fahrenden Sänger und ihre spannenden Abenteuergeschichten. Liest man die ersten Verse der Odyssee laut, versteht man, warum das Versmaß sich so gut zum Vortragen eignete. Es hatte einen ganz besonderen Rhythmus, der den Sängern half, sich an den Ablauf der Geschichte zu erinnern:
"Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft."
Eine Heimkehr mit Hindernissen
Das Epos beginnt mit der Entscheidung der Götter, Odysseus nun doch eine Heimkehr nach Ithaka zu ermöglichen. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich unser Held bereits seit sieben Jahren auf der Insel Ogygia, die von der Nymphe Kalypso bewohnt wird. Nymphen sind in der griechischen Mythologie Naturgöttinnen niederen Ranges, die in Wäldern, Wiesen, Gewässern oder Gebirgen leben und mit übernatürlichen Kräften ausgestattet sind.
Kalypso hatte Odysseus nach dem Sieg über Troja aufgenommen, nachdem ihn ein heftiger Sturm vom Kurs abgebracht hatte. Obwohl sie hoffte, den Schiffbrüchigen mit Unsterblichkeit und ewiger Jugend an sich binden zu können, muss sie ihn schließlich doch auf Wunsch der Götter ziehen lassen. Odysseus erhält Axt und Beil, damit er sich ein Floß zimmern kann, mit dem er kurz darauf die Insel verlässt. In der Zwischenzeit erscheint die Göttin Athene Odysseus' Frau Penelope in Gestalt eines alten Freundes und fordert ihren Sohn Telemachos auf, den verschollenen König Ithakas zu suchen.
Odysseus sticht mit seinem Floß in See, doch der Meeresgott Poseidon, den der mutige Seefahrer zuvor sehr verärgert hat, schickt einen Sturm, in dem Odysseus erneut Schiffbruch erleidet. Er strandet auf der Insel Scheria, wo er von Nausikaa, der Tochter des Königs Alkinoos, gefunden wird. Der König nimmt den Fremden, der seinen Namen zunächst nicht nennen möchte, freundlich auf. In zwei aufeinanderfolgenden Nächten erzählt Odysseus von seinen Irrfahrten. Am Ende seiner Schilderung, die als Rückblick angelegt ist, gibt sich der Held schließlich zu erkennen. Doch zunächst berichtet er König Alkinoos vom Sieg über Troja, das er und seine Krieger schließlich mit zwölf Schiffen verlassen. Nach einem misslungenen Überfall auf die mit den Trojanern verbündeten thrakischen Kikonen geraten die Ithaker erneut in einen Sturm, der sie ins Land der Lotosesser verschlägt. Bei der Erkundung der Insel schließen zwei von Odysseus' Männern Bekanntschaft mit den friedlichen Lotosessern, die ihnen von ihren berauschenden Früchten zu essen geben. Daraufhin vergessen die Krieger Sinn und Zweck ihrer Reise. Nur mit Gewalt kann Odysseus die Männer wieder an Bord bringen, woraufhin alle der Insel schleunigst den Rücken kehren.
Odysseus überlistet den Riesen Polyphem
Wasser und Nahrung an Bord werden langsam knapp, weshalb Odysseus und seine Gefährten beschließen, auf der Insel der Zyklopen zu landen. Die Zyklopen waren einäugige Riesen, die auf der Insel als Schafhirten lebten. Wie zu erwarten legt sich Odysseus direkt mit dem größten der Zyklopen, Polyphem, an und wird postwendend mit seinen Männern in eine Höhle gesperrt. Dort beginnt Polyphem, die ersten Männer aus Odysseus' Mannschaft zu verspeisen. Doch Odysseus, der sich dem Riesen mit dem Namen "Niemand" vorstellt, kann ihn in ein Gespräch verwickeln und schließlich betrunken machen.
Mit einem glühenden Pfahl stechen sie dem schnarchenden Polyphem danach das Auge aus. Als dieser die anderen Zyklopen mit den Worten "Niemand hat mich geblendet!" zu Hilfe ruft, halten alle ihn für verrückt. Odysseus kann mit seinen Freunden aus der Höhle entkommen, indem sie sich am Bauchfell der Schafe festklammern. Wieder auf See lässt es ich Odysseus nicht nehmen, Polyphem zu verspotten und ihm seinen wahren Namen zu verraten. Leider hat er dabei nicht bedacht, dass Polyphem der Sohn des Meeresgotts Poseidon ist. Der ruft seinen Vater zu Hilfe und Odysseus und seine Mannschaft geraten in einen fürchterlichen Sturm.
Ein Sack voll Wind und eine zirzende Zauberin
Wieder einmal völlig ab vom Kurs landet Odysseus auf der schwimmenden Insel des Windgotts Aiolos. Dort wird er gastfreundlich empfangen und zum Abschied erhält er einen Sack, in den Aiolos alle ungünstigen Winde sperrt, damit Odysseus endlich heimkehren kann. Bei bestem Wetter stechen die Männer in See, doch kurz vor Ithaka siegt die Neugier der Mannschaft, die wissen möchte, warum Odysseus einen Sack wie seinen Augapfel hütet. In einem unbeobachteten Moment öffnen sie schließlich den Sack und lassen damit alle Winde frei. Als sie kurz darauf wieder vor Aiolos Tür stehen, verweigert dieser jede weitere Hilfe.
Auf sich allein gestellt, landet die Mannschaft kurz darauf bei den Laistrygonen, menschenfressenden Riesen, dem einige zum Opfer fallen. Schließlich erreicht Odysseus mit seinem letzten Schiff die Insel Aiaia, auf der die Zauberin Zirze/ Kirke lebt. Ihr gefällt es, Odysseus' Gefährten in Schweine zu verwandeln und nur der Hilfe des Götterboten Hermes und dem heiligen Kraut Moly ist es zu verdanken, dass Odysseus von der Wirkung ihres Zaubertranks verschont bleibt. Zirze verliebt sich in Odysseus und "bezirzt" ihn lange, damit er bei ihr bleibt. Da kommt das Wort übrigens her, es bedeutet "umgarnen". Doch Odysseus lässt sich von seinem Wunsch, bald heimzukehren, nicht abbringen. Also rät sie ihm, den bereits toten Hellseher Teiresias in der Unterwelt aufzusuchen und um Rat zu fragen.
Blutdurstige Seelen und singende Sirenen
So ganz geheuer ist es Odysseus nicht, als er schließlich die Tore der Unterwelt erreicht. Kein Sterblicher hat es bisher gewagt, die Grenzen zum Hades zu überschreiten. Odysseus opfert ein Schaf, dessen frisches Blut die Toten anlockt. Mit seinem Schwert vertreibt er danach die Seelen so lange, bis der Seher Teiresias erscheint. Der warnt ihn vor Poseidons Wut, weil er Polyphem geblendet hat. Außerdem soll Odysseus sich von den Rindern des Sonnengotts Helios fernhalten. Sollte ihnen etwas passieren, würden Odysseus' Gefährten und Schiffe untergehen und er selbst allein und unerkannt zurückkehren. Nachdem Odysseus auch noch seiner verstorbenen Mutter und vielen gefallenen Gefährten aus dem Trojanischen Krieg begegnet, verlässt er von Grauen gepackt die Unterwelt.
Sein nächstes Ziel sind die Inseln der Sirenen, deren zauberhafter Gesang bereits vielen Seeleuten zum Verhängnis geworden ist. Denn während sie den verführerischen Stimmen zuhörten, zerschellten ihre Schiffe an den gefährlichen Klippen. Doch Odysseus ist clever: Er stopft seinen Seeleuten Wachs in die Ohren, damit sie den Lockgesang der Sirenen nicht hören. Danach lässt er sich an den Schiffsmast fesseln und droht seinen Männern, ihn unter keinen Umständen loszubinden. Nur seine Ohren bleiben frei, damit er den herrlichen Gesang hören kann, und so segelt die Mannschaft unbehelligt an den Sirenen vorbei.
Zwischen Skylla und Charybdis
Noch heute benutzen wir den Ausdruck "zwischen Skylla und Charybdis stehen" und wollen damit ausdrücken, dass wir zwischen zwei Übeln wählen müssen. Als Odysseus mit seinem Schiff die Meerenge zwischen dem Festland Italiens und Sizilien passiert, erfährt er am eigenen Leib, was damit gemeint war. Der Sage nach war Charybdis ein Meeresungeheuer, das man sich wie einen großen Sog vorstellen muss, der dreimal am Tag Wasser und Schiffe einsaugt und in Trümmer zerlegt wieder ausspuckt.
Gegenüber lauert Skylla, einst ein junges Mädchen, das sich in denselben Mann wie die Zauberin Kirke verliebte. Um die lästige Nebenbuhlerin auszuschalten, vergiftete Kirke das Meer, in dem Skylla gerne badete. Skylla wurde zur Bestie mit sechs Hundeköpfen und zwölf Pfoten. Fortan lauert sie auf ihrem Felsen und verschlingt jeden Matrosen, der daran vorbeisegelt. Auch Odysseus, der zu nah an ihrem Felsen vorbeifährt, verliert sechs seiner Männer.
Entkräftet und ausgehungert erreicht die Mannschaft schließlich die Insel des Sonnengotts Helios, der mit seinem Sonnenwagen täglich über den Himmel fährt und den Tag auf die Erde bringt. Obwohl Odysseus seinen Männern eingeschärft hat, dass die Rinder heilig sind, machen sie schließlich Jagd auf sie und veranstalten ein riesiges Grillfest. Zur Strafe kommt die gesamte Mannschaft bei einem Sturm ums Leben und Teiresias Prophezeiung, Odysseus würde alleine zurückkehren, erfüllt sich. Odysseus rettet sich auf die Insel der Nymphe Kalypso, wo er sieben Jahre bleibt, bevor er als Schiffbrüchiger bei König Alkinoos auf der Insel der Phaiaken landet.
Die lang ersehnte Rückkehr
Hier endet der Rückblick. König Alkinoos beschenkt den Heimkehrer reich und ermöglicht ihm eine Rückkehr nach Ithaka. Dort weht jedoch ein anderer Wind, denn zahlreiche Fürsten haben Anspruch auf den Thron und die Hand von Penelope erhoben. Nur einer List Penelopes ist es zu verdanken, dass noch keine Hochzeit stattgefunden hat: Sie möchte zunächst das Totenhemd ihres Schwiegervaters Laertes fertigweben, bevor sie sich für einen Bräutigam entscheidet. Die Freier wissen jedoch nicht, dass Penelope in der Nacht alles wieder auftrennt, was sie tags zuvor gewebt hat. Während sie auf ihre Entscheidung warten, plündern sie Odysseus' Besitz und bereichern sich an seinen Schätzen.
Als Odysseus auf Ithaka landet, erscheint ihm Athene, die ihn vor den Zuständen an seinem Hof warnt. Sie verwandelt ihn in einen alten Bettler, so dass er unerkannt die Lage an seinem Hof auskundschaften kann. Nur sein alter Hund Argos und die Magd Eurykleia erkennen ihn. Schließlich gibt er sich seinem Sohn Telemachos zu erkennen und gemeinsam planen sie die Rückkehr an den Königshof.
In der Zwischenzeit erscheint Athene Penelope und rät ihr, Odysseus' alten Bogen holen zu lassen. Wer ihn spannen und durch die Ösen von zwölf Äxten schießen kann, soll ihr Ehemann werden. Vergeblich versuchen die Freier ihr Glück, bis Odysseus schließlich den Pfeil durch alle Ösen schießt. Dann gibt er sich zu erkennen, lässt alle Türen verriegeln und kämpft mit seinem Sohn alle Freier nieder.
Eine letzte Prüfung
Doch Penelope erkennt Odysseus nicht wieder. Als er behauptet, ihr lang vermisster Ehemann zu sein, stellt sie ihn auf die Probe. Sie lässt sich von ihm das Schlafzimmer mit dem Ehebett beschreiben, das Odysseus aus dem Stamm eines einzigen Olivenbaums gezimmert hat. Keiner außer ihnen beiden weiß um dieses Geheimnis, und als Odysseus richtig antwortet, kann auch sie sich über seine Rückkehr freuen.
Nun wird endlich alles gut und selbst in der Unterwelt preisen die gefallenen Helden aus dem Trojanischen Krieg Odysseus siegreiche Heimkehr. Athene besänftigt die Verwandten der getöteten Fürsten und sorgt für Frieden. Damit endet eines der größten Epen der Weltliteratur, in dessen Mittelpunkt nicht nur die spannenden Abenteuer eines listenreichen Seefahrers stehen, sondern auch das Thema Heimweh, das den Helden immer wieder davor bewahrt aufzugeben und sich seinem Schicksal zu überlassen.
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