von Britta Pawlak
Der junge Karl-Heinz Richter wurde kurz nach seinem Fluchtversuch aus Ostberlin von der Stasi verhaftet, unter Zwang verhört und wurde schwer verletzt fast ein halbes Jahr im Stasi-Gefängnis in Pankow eingesperrt. In dieser Zeit musste der damals 17-Jährige Folter und Schikane sowie endlose Verhöre über sich ergehen lassen. Die Aufseher nahmen keinerlei Rücksicht auf seinen schlechten Gesundheitszustand. Heute, einige Jahrzehnte später, spricht er über seine schlimmen Erlebnisse, die Zustände in der einstigen DDR und seinen Neubeginn im Westen.
Herr Richter, was waren für Sie die schwersten Momente während der harten Zeit im Stasi-Gefängnis? Was hat Ihnen Hoffnung gegeben und woher haben Sie die Kraft genommen, durchzuhalten und nicht daran zu zerbrechen?
Die Ungewissheit, was mit meinen Eltern passiert, war für mich das Schlimmste. Wenn man mir schreckliche Dinge antat, dachte ich immer nur: "Gott sei dank wissen meine Eltern nicht, was man gerade mit mir macht, was man mir antut!". Dies half mir. Außerdem wurde ich immer zorniger. Ich hatte nie den Glauben daran verloren, diesen Horror zu überstehen, und dachte: Du kommst hier wieder raus und wirst deine Eltern wiedersehen. Wenn man sich aufgibt, hat man verloren.
Überraschend wurden Sie im Juli 1964 freigelassen - Ihre Mutter hatte ihre Beziehungen genutzt und alles in ihrer Macht Stehende getan, damit Sie ärztlich behandelt und aus der Haft entlassen werden. Sie schreiben, dass die Stasi wusste, dass Sie über die Geschehnisse im Gefängnis nicht mit anderen sprechen würden, keiner hätte Ihnen geglaubt. Wie viel von den skrupellosen Methoden der Stasi war in der Bevölkerung damals bekannt oder wurde zumindest vermutet? Haben die meisten Menschen den Terror und die Gefahr verdrängt?
Die Menschen draußen hatten keine Ahnung, mit welchen Methoden die Stasi arbeitet. Nur die wenigsten wussten bescheid. Die Stasi wusste auch, dass ehemalige Gefangene über ihre Erfahrungen nicht sprechen werden. Jeder ehemalige Häftling war auf seine Art traumatisiert. Keiner wollte zurück ins Gefängnis. Die Bevölkerung war Weltmeister im Verdrängen. So lebt es sich doch viel einfacher.
Das Buch über Ihre Flucht ist 2003, also Jahrzehnte später, erschienen. Wie sind Sie anfangs mit den traumatischen Erlebnissen umgegangen? Gab es Menschen, mit denen Sie überhaupt offen darüber sprechen konnten? Wie kam es zu Ihrem späteren Entschluss, Ihre persönliche Geschichte niederzuschreiben und zu veröffentlichen?
Ich habe wirklich Jahrzehnte nicht über meine Geschichte gesprochen. Ich wollte nicht als Spinner dastehen. Nur wirklich wenige wussten bescheid. Im Jahre 2000 wurde von Freya Klier eine Filmdokumentation über diese Flucht gedreht und erst ab diesem Zeitpunkt begann ich, mich zu öffnen. Ab da reifte mein Entschluss, dieses Buch zu schreiben, was ich auch tat. Im Jahre 2011 erschien mein zweites Buch. 2012 kommt noch das dritte auf den Markt.
Sie wussten, dass es sich bei der geplanten Flucht um ein riskantes Vorhaben handelte, schreiben aber, dass Sie sich damals längst nicht im Klaren darüber waren, wie heikel dieser Plan tatsächlich war. Hätten Sie denn sonst anders gehandelt und haben Sie Ihren Fluchtversuch später bereut?
Vom ersten Augenblick an war mir jedenfalls die Gefährlichkeit dieses Fluchtunternehmens klar. Jeder von uns wusste, dass er dabei sein Leben verlieren könnte. Doch wenn du so jung bist, glaubst du auch, unsterblich zu sein. Diese Flucht habe ich niemals auch nur ansatzweise bereut. Bis heute nicht. Im Gegenteil: Ich bin stolz auf das, was ich gemacht habe.
Im Jahr 1975 stellten Sie einen Ausreiseantrag und durften mit Ihrer Familie die DDR verlassen. Wie haben Sie die Anfangszeit erlebt in einer Gesellschaft, die sich völlig von dem sozialistischen System der DDR unterschied? Wie reagierten die Menschen im Westen auf Sie als DDR-Aussiedler? Sind Ihre Erwartungen und Hoffnungen erfüllt worden?
Wenn man mit nur vier Koffern ein neues Leben beginnen muss, ist das nicht sehr einfach. Dieses System in Westberlin war durch nichts zu vergleichen mit der Situation in der DDR. Die Menschen in Westberlin reagierten, bis auf wenige, gleichgültig, eher distanziert. Unterstützung und ein Gefühl von Zusammengehörigkeit gab es kaum. Dies hatte ich auch nicht erwartet. Die Menschen in Westberlin hatten mit sich genug zu tun. Ihnen war es sehr wichtig, Arbeit zu haben und Geld zurückzulegen, um ihre Urlaubswünsche zu erfüllen. Sie erschienen mir am Anfang sehr oberflächlich. Die Bürokratie empfand ich anfangs als sehr nervig. Doch dies legte sich mit der Zeit. Ich hatte keine falsche Erwartungshaltung mitgebracht. Mir war klar, alles, was ich ab jetzt tun werde, muss ich allein schaffen. Dies habe ich auch getan. Mein Traum ist wahr geworden: Ein Leben in einer Demokratie.
Später haben Sie anderen Menschen zur Flucht in den Westen verholfen und erhielten deshalb auch ein "Transitverbot" durch die DDR. Wie kam es dazu?
Nachdem ich erfahren hatte, dass meine Frau in der Untersuchungshaftanstalt vergewaltigt worden war - dies ist zu lesen im Band 2 meiner Buchreihe, "Mit dem Moskau-Paris-Express nach Afrika" -, musste ich irgendetwas tun, um diesem System zu schädigen. Was sollte man tun? Ich wählte die Fluchthilfe. Hier konnte man anderen Menschen helfen und traf diese Verbrecher mitten ins Herz. Und man konnte auch sehr deutlich zeigen: So perfekt war ihr System doch nicht.
Alle erfuhren, dass immer wieder Menschen versuchten, aus dieser Diktatur zu fliehen. Jeder, der es wagte zu fliehen, ging ein sehr großes Risiko ein, gefasst zu werden, doch der Freiheitsdrang war eben größer als die Angst, bestraft zu werden. Gerade für die Fluchthelfer war das Risiko, gefasst zu werden, enorm groß. Ich tat dies aus purem Hass - für mich die einzige Form, meinen Hass abzubauen. Irgendwann hatte ich erkannt, dass Hass einen selbst zerstört und einem die Lebensqualität nimmt. Heute kenne ich keinen Hass mehr, ich habe meinen Frieden gefunden. Und dennoch würde ich alles wieder genau so machen, ohne zu zögern.
Nach längeren Aufenthalten im Ausland sind Sie erst viel später nach Berlin zurückgekehrt, nämlich im Jahr 2004. Wie empfinden Sie heute das Leben in der einst geteilten Stadt?
Berlin ist meine Heimatstadt. Hier möchte ich meinen Lebensabend verbringen und auch begraben werden. Zurück zu den Wurzeln. In Berlin zu leben ist für mich sehr spannend. Ich habe auf meiner langen Reise keine Großstadt erlebt, die offener ist als Berlin. Es bereitet mir heute noch große Freude, durch Berlin zu gehen. Ein vereintes Berlin, ein vereintes Deutschland. Ich bin endlich angekommen.
Auch heute noch, ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung, sehen viele Menschen eine tiefe Spaltung zwischen Westdeutschland und den "neuen Bundesländern". Wie bewerten Sie rückblickend die gesamtdeutsche Entwicklung nach dem Mauerfall? Sind die Erwartungen vieler Menschen eher enttäuscht worden? Inwieweit konnte die Geschichte des eigenen Landes Ihrer Ansicht nach bisher aufgearbeitet werden?
Bedauerlicherweise gibt es heute noch Menschen, die die Wiedervereinigung negativ sehen. Dies sind die ewig Gestrigen. Sie sind noch nicht angekommen. Wenn man ein demokratisches System nie vermisst hat, ist es sehr schwierig, dies zu akzeptieren. Sie haben immer noch nicht begriffen, was Demokratie und Freiheit bedeuten. Erst wenn die nachfolgenden Generationen, die Jugend, das Sagen haben werden, wird sich dieser Konflikt lösen. Weshalb einige enttäuscht sind, ist auch klar. Sehr viele, die sich diesem alten System angepasst hatten, verloren nun ihre Vorzüge und Begünstigungen. Aufarbeitung ist von diesen Menschen nicht erwünscht. Die Aufarbeitung beginnt erst langsam, aber stetig. Ich werde mich darum bemühen, solange ich kann.
Sie führen heute Besuchergruppen durch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Als Buchautor und Referent für politische Bildung bringen Sie den Menschen die DDR-Geschichte ein Stück näher. Wie sehen Sie das Interesse gerade auch junger Leute für die jüngste Geschichte im eigenen Land? Wie können Kinder und Jugendliche an dieses wichtige Thema herangeführt werden?
Mit großer Freude nehme ich zur Kenntnis, mit welcher Begeisterung und mit welchem Interesse gerade junge Menschen meinen Ausführungen zuhören. Leider wird dieser Teil der Geschichte in den Schulen kaum bearbeitet. Die Jugend erfährt meiner Meinung nach zu wenig. Kinder und Jugendliche können nur durch motivierte Lehrer und Referenten an diese Thematik herangeführt werden.
Ich kann aus meinen Erfahrungen sagen: Die Jugend ist interessiert an Geschichte. Man muss ihr nur die Chance geben, etwas davon zu erfahren. Solange ich kann, werde ich dies auch tun.
Herr Richter, vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Britta Pawlak.
Interview mit Karl-Heinz Richter - Teil 1: Gefährlicher Fluchtversuch nach West
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