Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren

27.04.2015

Vor genau 100 Jahren wurden die Armenier, die im Osten der heutigen Türkei lebten, Opfer von brutalen Angriffen türkischer Militäreinheiten und bewaffneter Menschen aus der Bevölkerung. Weltweit wird in diesen Tagen der Vernichtung und Vertreibung der über eine Million Opfer dieses Verbrechens gedacht. Bis heute streitet die türkische Regierung jedoch ab, dass es sich um einen "Völkermord" an der armenischen Minderheit im Land handelte, und selbst deutsche Politiker drücken sich darum, die schlimmen Verbrechen so zu bezeichnen. Was sind die Hintergründe und was geschah damals zwischen 1915 und 1916?

Zahlreiche Armenier werden im April 1915 von osmanischen Soldaten aus Karphert in ein Gefangenenlager nach Mezireh verschleppt.
American red cross 1923 (aus: Politisches Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes. Bestand: Konstantinopel 169)/ en.wikipedia

Im Jahr 1915 tobte in Europa der Erste Weltkrieg (1914-1918). Das Osmanische Reich, der Vorläuferstaat der heutigen Türkei, kämpfte dabei an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns gegen Russland. Zu dieser Zeit lebten ungefähr zwei Millionen Armenier als "ethnische Minderheit" im Osmanischen Reich - so nennt man eine Bevölkerungsgruppe, die in einem Land oder Gebiet in der Minderzahl ist und deshalb nicht selten mit Unterdrückung und Ausgrenzung zu kämpfen hat.

Die armenische Minderheit hatte ein schweres Leben innerhalb des Osmanischen Reiches. Schon in den Jahren vor dem Weltkrieg gab es immer wieder Konflikte zwischen den Türken und der armenischen Bevölkerung. So wurden die Armenier wegen ihres christlichen Glaubens vom osmanischen Staat unterdrückt und mussten mehr Steuern zahlen als muslimische Bürger. Mit dem Beginn des Krieges verschlimmerte sich das Verhältnis zwischen dem Staat und der armenischen Minderheit noch einmal. Die osmanische Regierung glaubte, dass sich die christlichen Armenier im Osmanischen Reich auf die Seite des ebenfalls christlich geprägten Russlands schlagen würden. Denn auch auf der russischen Seite kämpften armenische Einheiten gegen die Osmanen. Deshalb misstrauten die meisten Türken den Armeniern und betrachteten diese als Feinde.

Hinzu kam, dass viele Armenier zu den etwas wohlhabenderen Bevölkerungsgruppen gehörten. Es gab viele Händler, Ärzte, Rechtsanwälte oder Grundbesitzer, die Armenier waren. Das machte es der osmanischen Regierung leicht, Hass und Neid gegenüber dieser Volksgruppe zu schüren. Aufgrund der Tatsache, dass die Armenier keine Moslems waren, galten sie in dem islamisch geprägten Reich ohnehin als verdächtig. Außerdem regierte zu dieser Zeit die so genannte Partei der "Jungtürken". Das war eine politische Bewegung, die extrem nationalistisch eingestellt war und alles, was nicht osmanisch-islamisch war, bekämpfte. Das Ziel der Regierung war ein Osmanisches Reich, das rein islamisch geprägt sein sollte. Dieses Ziel sah man durch dort lebende Minderheiten wie die christlichen Armenier, Assyrer oder Griechen bedroht.

Todesmärsche, Mord und Folter

Eine trauernde Armenierin kniet während einem der grausamen "Todesmärsche" nach Syrien neben ihrem toten Kind.
http://memory.loc.gov/ammem/index.html/ Rep.-No. LC-USZ62-48100

Im Frühling 1915 begann die von der Regierung organisierte grausame Vertreibung und Vernichtung der Volksgruppe. Am 24. und 25. April führte die Polizei Durchsuchungen und Verhaftungen in der damaligen Hauptstadt Konstantinopel (heute Istanbul) durch. Dabei wurden 235 angesehene Persönlichkeiten der armenischen Gemeinschaft festgenommen, gewaltsam ins Landesinnere verschleppt und ermordet oder zu Tode gefoltert. Dies war erst der Beginn einer brutalen Verfolgung und Vernichtung der armenischen Bevölkerung. In den kommenden Tagen wurden über 2.000 Personen festgenommen.

Die Verhaftungen breiteten sich im Laufe des Jahres 1915 auf das ganze Reich aus. Männer, Frauen und Kinder wurden verhaftet. Aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit wurden sie aus ihren Häusern vertrieben, ihre Wohnungen wurden geplündert, die Grundstücke beschlagnahmt und ihr Hab und Gut geraubt. Schon bei diesen Polizeiaktionen wurden viele Armenier an Ort und Stelle getötet. Beobachter der Verbrechen berichteten später, dass die Männer auf brutale Weise ermordet wurden. Viele Frauen und Mädchen wurden verkauft, zahlreiche Kinder bei lebendigem Leib verbrannt, erschlagen, in Schluchten geworfen oder in Flüssen und Seen ertränkt. Die meisten verantwortlichen Politiker unterstützten diese Gräueltaten. Es gab aber auch Landräte und Gouverneure, die sich weigerten, diese Verbrechen zu dulden oder gar zu unterstützen. Diese wenigen aufrechten Politiker wurden dann selbst Opfer der Mordaktionen und vom Staat hingerichtet. Auch innerhalb der Bevölkerung wurden diese Grausamkeiten nicht von allen Menschen unterstützt. Viele Türken versteckten Armenier oder halfen diesen zur Flucht vor den Todeskommandos.

Im gesamten Osmanischen Reich wurden im Laufe des Jahres 1915 so genannte "kriegsbedingte Umsiedlungen" der Armenier organisiert. Tatsächlich war mit diesen "Umsiedlungen" die geplante Vernichtung der Armenier gemeint. Die Überlebenden wurden in einigen Städten zusammengetrieben und dann zu so genannten "Todesmärschen" gezwungen. Tausende Armenier mussten über unwegsame Gebirge und durch trostlose Ebenen in Richtung Syrische Wüste ziehen. Dabei starben die meisten von ihnen. Außerdem wurden die Menschen auf den Todesmärschen auch noch von Banden angegriffen und überfallen. Die wenigen, die die Qualen überlebten, starben später an Hunger, Entkräftung und Krankheiten in Lagern in der syrischen Wüste.

Ziel dieser grausamen Taten war es, das osmanische Reich von Armeniern zu "befreien" - man spricht verharmlosend auch von "ethnischen Säuberungen". In geheimen Gesprächen gaben osmanische Politiker zu, dass durch diese "Umsiedlungsaktionen" die Armenier in Wahrheit vernichtet werden sollten. Insgesamt kamen bei den Massakern und Todesmärschen tausende Menschen ums Leben. Da es zur damaligen Zeit keine genauen Aufstellungen über die Anzahl von Armeniern im Osmanischen Reich gab, ist es schwer zu sagen, wie viele Menschen insgesamt zu Tode kamen. Experten gehen von 300.000 bis zu 1,5 Millionen Opfern aus. Viele Armenier, die überleben wollten, wurden gezwungen, zum Islam überzutreten oder ihre Herkunft zu verleugnen.

Türkei bestreitet Völkermord

Massentransport von Armeniern im Jahr 1915 in so genannten "Hammelwagen" der Anatolischen Bahn
genocide-museum.am/eng/german_archive.php

Schon damals sorgten diese Geschehnisse auch im Ausland für Aufsehen. Der deutsche Botschafter im Osmanischen Reich, Freiherr Hans von Wangenheim, berichtete nach Berlin, dass das, was die Türken "Deportation" nannten, in Wirklichkeit mit dem Ziel geschah, die Armenier "im türkischen Reiche zu vernichten". Da die Türkei Deutschlands Verbündete im Krieg war, schwiegen die deutschen Politiker einfach zu diesen Verbrechen. Der damalige Kanzler, Bethmann Hollweg, schrieb: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber die Armenier zugrunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen." Auch Deutschland und andere Länder trugen durch ihr Schweigen also eine Mitschuld an den schlimmen Verbrechen an den Armeniern.

Noch immer stellen einige infrage, ob die Verbrechen der Osmanen an den Armeniern ein "Völkermord" waren oder nicht. Nach den meisten Definitionen gilt es als Völkermord, wenn eine Regierung ein ethnisch, religiös oder kulturell zusammengehöriges Volk absondert und mit voller Absicht versucht, seine körperliche und kulturelle Vernichtung herbeizuführen. 1987 stufte das Europaparlament die Massaker an den Armeniern als "Völkermord" ein und forderte die Regierung in der türkischen Hauptstadt Ankara auf, diesen anzuerkennen. Zahlreiche Regierungen auf der ganzen Welt folgten. Auch Papst Franziskus bezeichnete die Morde als "Genozid", so sagt man auch für Völkermord. Die Türkei als rechtliche Nachfolgerin des Osmanischen Reiches bestreitet allerdings weiterhin, dass es sich um einen gezielten "Völkermord" gehandelt habe. Noch bis vor ein paar Jahren war es in der Türkei sogar verboten, die Ermordung der Armenier öffentlich als "Völkermord" zu bezeichnen. Mittlerweile gibt es auch in Fernsehen, Radio und Zeitungen immer mehr Stimmen, die fordern, dass sich die Türkei kritisch mit ihrer Geschichte auseinandersetzt.

Die heutige türkische Regierung behauptet, dass die tausenden Armenier im Zusammenhang mit den Umsiedlungsaktionen zu Tode gekommen seien. Das Ziel sei nicht die Vernichtung der Armenier gewesen. Die fast 100 Jahre zurückliegenden "tragischen Ereignisse" seien etwas für Historiker. Einige türkische Historiker behaupten tatsächlich, die Armenier hätten damals einen Bürgerkrieg gegen das Osmanische Reich geführt. Die hohen Todeszahlen seien durch die Wirren des Krieges, Hunger und Witterung zu erklären. Die meisten Geschichtsexperten weltweit sind sich heute jedoch einig, dass die Verbrechen an der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich nichts anderes als ein grausamer Völkermord waren.

Zum 100-jährigen Gedenken: Trauer und Kritik

Gedenken an den Völkermord an den Armeniern 1915/16 in einer Armenischen Kirche in Wolgograd in Russland
Grig24, Creative Commons (CC BY-SA 3.0)

In diesen Tagen, da die Geschehnisse nun genau 100 Jahre zurückliegen, gedenkt man in Trauer an die Verbrechen an der armenischen Bevölkerung und die Diskussion um die vergangenen Ereignisse ist erneut aufgeflammt. Bei einer Feierstunde in Armenien sagte der Präsident des Kaukasuslandes, Sersch Sarkissjan: "Nichts ist vergessen, nach hundert Jahren erinnern wir uns". Die türkische Regierung bedauert zwar das Leid der armenischen Opfer, eine Schuld der Osmanen gesteht sie jedoch weiterhin nicht ein. So sagte der türkische Regierungschef Erdogan anlässlich des Jahrestages: "An diesem Tag, der für unsere armenischen Bürger eine besondere Bedeutung hat, gedenke ich aller osmanischen Armenier mit Respekt, die unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges ihr Leben verloren haben." Die Vorfälle des Ersten Weltkriegs seien ein gemeinsamer Schmerz.

Armenier im Ausland und die armenische Regierung kritisierten diese Worte scharf, weil Erdogan die Ereignisse von 1915/16 nicht als Völkermord bezeichnete und das Leid der Armenier mit dem der Muslime im Osmanischen Reich gleichsetzte. Dass die Regierung einen Völkermord abstreitet, hat nicht nur politische Gründe, sondern auch rechtliche. Die Türkei befürchtet nämlich Ansprüche von überlebenden Armeniern auf Schadensersatz und möglicherweise sogar Gebietsansprüche des Nachbarstaates Armenien, wenn sie zugibt, damals einen Völkermord begangen zu haben. Auch viele Politiker und Menschen im Ausland kritisieren die Haltung der Türkei.

Doch selbst die deutsche Regierung drückt sich um die offizielle Bezeichnung "Völkermord", weil sie das verbündete Land Türkei offenbar nicht allzu sehr kritisieren und die Beziehungen nicht belasten will. Nach Bundeskanzlerin Merkel (CDU) könne man die Ereignisse vor 100 Jahren nicht als "Völkermord" bezeichnen, weil es diesen Begriff damals noch gar nicht gegeben habe - damit übernahm sie eine fragwürdige Haltung der Türkei und erntete für diese Aussage natürlich viele kritische Stimmen. Der türkische Regierungschef soll bei Merkel zuvor angerufen und sich über die Diskussion in Deutschland beschwert haben. Dennoch setzte Bundespräsident Joachim Gauck in einer Gedenkfeier die Ereignisse vor 100 Jahren mit dem Begriff Völkermord gleich und stellte sich somit gegen die Haltung der deutschen Bundesregierung.

Die Reaktionen in der Türkei zeigen, dass die Regierung weit davon entfernt ist, die Meinung der anderen zu akzeptieren und die eigene Schuld in der Vergangenheit einzugestehen. Nachdem das EU-Parlament die Massenmorde als "Völkermord" bezeichnet hatte, sagte der türkische Staatspräsident Erdogan, seine Regierung nehme die EU-Abgeordneten, die "Geschichte und Recht verstümmeln", nicht ernst. "Für die Türkei ist es niemals möglich, eine solche Sünde, eine solche Schuld anzuerkennen."

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letzte Aktualisierung: 03.05.2015

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